Montag, 29. Juni 2020

Ich erinnere mich an den Ton, den die Freiheit summt

Wieder ist es ein Geburtsprozess oder viel mehr so wie das Einfahren, das Niederkommen der Seele ins Fleisch. Also geraume Zeit vor der Geburt. Das Gefühl die größtmögliche Freiheit zu verlassen und sich freiwillig der Enge eines Körpers auszusetzen ist mir wohlbekannt. So fühlt sich eben eine Seele, die inkarniert. Ganz viel von der Unbegrenztheit gibt sie auf. Wohlwissentlich, dass manche Erfahrungen nur in einem Körper möglich sind. Es ist auch eine Art Abschiedsschmerz.

Es kommt mir vor, wie wenn ich nun wieder Freiheit „aufgebe“, die Freiheit, die ich hier in der Natur, in der Weite, in der Stille, in der Gelassenheit dieses Landes erfahren habe. Bald geht es zurück. Ich inkarniere in Deutschland, ziehe mit meinem Bewusstsein ein in die Enge eines „Körpers“, einer Körperschaft.

Mir ist klar, dass es zurückgeht. Ich könnte auch flüchten und mir sagen, dass ich nur wo anders glücklich und frei leben kann, dass das in Deutschland nicht geht. Aber meine Wahrheit ist eine andere. Dieses Land will aufgeknackt werden und ich bin eine von denen, die es dazu braucht. Es geht darum, dieses starre Land, dieses eng denkende Land von innen heraus aufzubrechen. Es von innen nach außen zu weiten. Mich darin auszudehnen mit der Weite, die ich in mir trage. Die Grenzen von innen heraus sprengen. Dazu muss ich wieder „rein“.

Ich weiß, dass auch in Deutschland diese Freiheit möglich ist, erfahrbar. Genau das ist meine Wahl, nein, meine Wahrheit, ein tiefes inneres Wissen. Diese Wahl hab ich vor diesem Leben getroffen. Freiheit und Weite, Leichtigkeit und Freude, bedingungsloses Sein in Deutschland erleben.

Dieses deutsche Land wird gerade so sehr transformiert, geläutert und dabei geschüttelt, umgekrempelt, aufgewirbelt. Die altbekannte Enge lebt nochmal so richtig auf, zeigt sich, damit sie erlöst werden kann. Ich sterbe in sie hinein in diese Enge. Das ist dieses Niederkommen ins Fleisch. Der Geist geht ins Fleisch. In diesem inneren Bild bin ich das Bewusstsein und Deutschland der Körper, den ich wähle. Ich ziehe voll und ganz ein und dann sprenge ich die Ketten und Grenzen von innen, in dem ich mich in meine volle Größe entfalte. Erst zusammenziehen, um reinzukommen, dann ausdehnen und explodieren, expandieren, transformieren. Die Raupe wird zum Schmetterling. Der Kokon platzt auf, der Schmetterling breitet die Flügel aus und fliegt. Von der alten Enge nichts mehr zu sehen, nichts mehr zu ahnen. Wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen und am eigenen Leib erfahren hätte, würde man nicht vermuten, dass dieser Kokon jemals da war.

Das ist für mein Gefühl der Weg, der Prozess, den Deutschland gerade durchlebt. Der Kokon ist so präsent, dass man gar nicht meinen mag, dass Freiheit möglich ist und doch von jetzt auf gleich, ganz plötzlich ist der Schmetterling fertig und der Kokon hat gar keine andere Chance als nachzugeben und aufzuplatzen, sich zu ergeben. Seine Zeit ist abgelaufen. Er wird nicht mehr gebraucht. Er darf sterben, wie die Raupe zuvor gestorben ist.

Nicht nur ich bin dieses Bewusstsein, das Deutschland von innen heraus aufbricht. Ihr alle, die ihr das lest, wir alle, sind dieses kollektive, wache Feld, das diesen Wandel vollzieht. Wir sprengen von innen die Ketten, weil wir die Freiheit in uns tragen, weil wir um sie wissen, sie nie vergessen haben. Wir haben uns diesen Schatz behütet. Wir erinnern damit jede Zelle von diesem Land, bringen sie zum Schwingen und spielen den Ton der bedingungslosen Liebe. Immer mehr stimmen in diesen Ton ein und irgendwann summt das ganze Land seinen eigenen, ursprünglichen Ton der Freiheit. Die Befreiung ist gelungen, vollbracht, von innen nach außen, hat durchgewirkt.

Das ist meine Wahrheit. Ich bringe die Freiheit mit nach Deutschland. Die Freiheit, die ich hier so sehr endlich wieder am eigenen Leib erfahren durfte. Deswegen musste ich auf Reisen. Ich musste den Ton erfahren, den die Freiheit summt, damit ich ihn in Deutschland summen kann.

Foto, Text und Gestaltung: Anja Reiche