Samstag, 13. Oktober 2018

Echt sein macht schön

Wenn es darum geht, zu sich zu stehen, echt zu sein und keine faulen Kompromisse einzugehen, dann bedeutet das gerade im zwischenmenschlichen Bereich ganz viel Klarheit. Und die braucht manchmal echt Mut. Gerade da haben wir so viele alte Überzeugungen.

Immer schön bitte und danke sagen.
Nett grüßen und lächeln, wenn jemand entgegen kommt.
Auch den unliebsamen Onkel, der einen nur dumm anredet, freundlich behandeln.
Generell zu Verwandten und Nachbarn nett sein.
Den Schein wahren, damit alle einen mögen. Die wirkliche Meinung wird dann hinterher gesagt, wenn derjenige weg ist. Da wird dann richtig gelästert.

So bin ich groß geworden. So wurde ich erzogen. Immer schön ins Gesicht lachen, auch wenn ich denjenigen nicht leiden kann. Nur nicht anecken, nur nicht auffallen, immer schön unterordnen. Die Meinung der anderen ist richtiger und wenn ich doch glaube, dass meine richtig ist, dann sag ich das niemals direkt ins Gesicht.

Über die Jahre hab ich mich da raus gewurschtelt, wurde mutiger, offener, radikaler, hab meine Meinung vertreten und mich selbst ernst genommen. Ich wurde authentischer.

Mittlerweile sortiere ich aus. Ich verabschiede Menschen aus meinem Leben, die nicht mehr passen, die nicht die gleiche Sprache sprechen, die mir nicht gut tun. Ich entferne "Freunde" auf Facebook, lösche Kommentare, lösche Kontakte, beantworte Nachrichten nicht, wenn es sich nicht stimmig anfühlt. Ich folge meinem Gefühl, ganz radikal. Dachte ich...

Bis mir gestern klar wurde, dass das so nicht ganz stimmt. Ich tue es manchmal immer noch. Ich bin manchmal immer noch unehrlich. Ich lächle Menschen ins Gesicht und bin freundlich und denk mir innerlich "was für ein Mist". Nur um des lieben Frieden Willen. Und oft auch aus Angst vor Ablehnung.

Ich hab es nicht bemerkt. Das lief so automatisch, so ganz von alleine. Erst als ich mir gestern die Frage gestellt habe, was in meinen Zähnen noch so arbeitet, was da noch für ein Konflikt ist, wo ich gegen mich kämpfe, wo ich ein gespaltenes Verhältnis habe (ich habe einen Haarriss längs in jedem Schneidezahn), kamen die Antworten, die mich echt verblüfft haben.

Kein Wunder, dass meine Schneidezähne gespalten sind, sich locker anfühlen und für mich auf Fotos manchmal sehr seltsam aussehen. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, sie verschieben sich. Und tatsächlich ist dieses Phänomen in unserer Familie verbreitet. Bei den Frauen mütterlicherseits.
Ich kann so irgendwann nicht mehr "schön" ins Gesicht lachen. Ich (die Frauen unserer Familie) kann dann gar nicht mehr schön lachen. Ich darf dann mein wahres Gesicht zeigen, die hässlichen, wahren Gedanken. Mein Körper sorgt dafür, dass ich niemandem mehr fälschlicherweise schön ins Gesicht lachen kann, obwohl ich was ganz anderes über ihn denke, obwohl ich ihn nicht mag. So krass! Unsere Körper sind einfach Wunderwerke.

Ich darf es mir wieder erlauben, unfreundlich zu sein. Noch ehrlicher anderen gegenüber.
Ich muss nicht nett sein, wenn ich keine Lust drauf habe. Andere müssen keinen guten Eindruck von mir haben. Man muss mich nicht mögen. Ich muss Freunde nicht "behalten", nur weil wir uns ja schon so lange kennen. Wir dürfen uns trennen und uns sagen, dass es einfach nicht mehr passt, dass wir an zu unterschiedlichen Punkten im Leben stehen, zu unterschiedliche Weltbilder und Vorstellungen vom Leben haben.

Ich muss nicht nett sein, auch wenn es Verwandtschaft ist. Ich muss nicht zum Geburtstag gratulieren, weil man das eben so macht. Ich muss überhaupt nichts und ich darf andere damit "verletzen". Sie dürfen mich für überheblich halten, für arrogant, für abgehoben. Sie dürfen mich nicht mögen. Sie dürfen über mich schimpfen.

Ich will auf jeden Fall nicht mehr schön tun, wenn ich es nicht 100% so meine. Ich will schön echt sein, in meiner Echtheit schön sein. Mein Innen und Außen wieder noch mehr vereinen.

Und ich entschuldige mich bei allen, zu denen ich nicht ehrlich war, denen ich unbewusst etwas vorgemacht habe. Das hat niemand verdient.

Fotos: Canva
Text und Gestaltung: Anja Reiche