Dienstag, 13. Februar 2024

Vor dem Geben muss ich haben

Ohne ein Ich, gibt es kein Wir. Wer oder was sollte auch in ein Wir gehen, wenn das Ich nicht erforscht und bekannt ist? Wer oder was sollte in Kontakt gehen können? Wem könnte ich in einem Wir begegnen, wenn da kein anderes Ich ist?

Bevor ich mich "vergesse", mit jemandem verschmelze, mich auflöse in etwas Größerem, muss es mich erstmal geben. Voll und ganz. Komplett.

Bevor ich teile, gebe, muss ich erstmal etwas haben. Selber haben dürfen. Satt sein. Um aus der Fülle zu geben und nicht aus dem Mangel oder aus Angst, darf ich mir gewahr sein, dass ich habe, tatsächlich aus den Vollen schöpfen kann, aus dem eigenen Vollsein, Vollständigkeitsein. Weil ich mir selbst alles zugestehe, das Hellste und das Dunkelste, weil ich befriedigt, zufrieden bin. Weil ich ganz Mensch bin. Ein Ganz-Mensch. Rund. Und gleichzeitig darüber hinaus um die wahre Quelle weiß. Sie ebenfalls bin. Ich bin Überfluss. Ich bin alles. Dafür muss ich erstmal wirklich alles sein dürfen.

Ein Glas läuft von alleine über, wenn es voll ist. Es gibt ohne Anstrengung. Das Geben geschieht im ausreichend Empfangen. Will ich aus einem halbvollen Glas geben, braucht es einen Kraftaufwand.

Ich beobachte gerade in der spirituellen Szene und in den verzerrten Religionen, dass ein Geben gefordert wird, das einen selbst vergisst. Ein Sein, das gewisse Aspekte ausschließt. Ein Aufopfern. Ein Märtyrertum. Ein Martyrium.

Diese Art des Gebens schmeckt für mich extrem sauer. Ist bitter. Widerlich und eklig. Klebrig. Von diesem Geben will ich nichts bekommen. Diese Geber wollen vielmehr etwas von mir. Sie lechzen innerlich still nach Anerkennung, nach gesehen werden, nach Liebe. Dieses Geben ist hohl. Es ist unbeseelt und lieblos. Es ist kein sich selbst Hingeben, weil es noch nie ein Selbst gegeben hat, das sich da hingeben könnte. Da wirft sich eine ausgehungerte Hülle hin, die eigentlich selbst nach Liebe schreit.

Der erste Schritt, komplett ICH zu werden/sein, kann nicht übersprungen werden. Selbst satt sein, ist unabdingbar für reines Geben. Ein Kind das wirklich auf allen Ebenen genährt ist, gibt von selbst. Gier entsteht für meine Begriffe - völlig zu Recht und natürlich - aus einer Form der Unterernährung/Unterversorgung, des "nicht ganz da sein dürfens". Meist handelt es sich um emotionale Unterversorgung, aber eben auch, wenn zu früh geteilt werden musste und das "selber etwas haben dürfen" nicht stattfinden durfte. Wenn der Teil, der selber etwas möchte und braucht - völlig zu Recht - nicht sein durfte.

Die eigene Gier existiert zu Recht, doch sie zählt zu den dunkelsten Schatten, die kaum jemand an sich selbst haben will. Sie sucht sich dennoch ihre Bühne. Süchte aller Art, Essen, Sex, Medien, Geld, Arbeit, Konsum, Extremsport, etc. Da ist sie halbwegs anerkannt die Gier. Gesellschaftsfähig. Das Habenwollen. Aber das alles stopft nicht das Loch im Herzen oder im Bauch, das energetisch vorhanden ist. Das alles füllt nicht die Lücke in uns. Bringt nicht den Anteil zurück, der nicht sein durfte.

Letztlich glaube ich, wir vermissen uns schlicht selbst in unserer Ganzheit. Unser Sosein mit allen Farben. Ein Angenommensein mit jedem Aspekt.

Wir dürfen haben wollen. Wir dürfen haben. Vor allem uns selbst. Und uns behalten, so lange wir das wollen. In jedem Zustand. Wir dürfen ein Ich sein. Wir müssen nicht selbstlos werden, wenn wir damit gegen unser Innerstes gehen und wieder den Anteil übergehen, der noch nie etwas haben durfte. Wir können auch gar nicht selbstlos werden, wenn es noch kein ganzes Selbst gibt.

Ganz zu "werden", ganz sein dürfen, ist unsere Aufgabe. Das kann uns keiner abnehmen. Das kann im Außen nicht kompensiert werden. Alle Anteile in den inneren Kreis zu holen, rund sein, vollständig. Auch den Anteil nach Hause holen, der das Brauchen verhindern will, der deswegen keinen Ärger will, der sich dafür schämt, der alles alleine können will. Auch den gibt es meistens. Auch der braucht uns. Wahrscheinlich noch mehr, als der an sich brauchende.

Dann haben wir tatsächlich ein ganzes Ich, das wir geben könnten. Vielleicht. Irgendwann.