Freitag, 1. Februar 2019

Vom Optimierungswahn und unserem Hang zur Selbstaufgabe

"Wir erkennen uns im anderen."
"Die anderen spiegeln uns unsere Themen."
"Wenn uns etwas triggert, können wir nur bei uns schauen, dann gibt es da noch was zu heilen."
"Erst, wenn uns in Begegnung mit anderen, nichts mehr triggert, haben wir all unsere Themen fertig bearbeitet."

Das ist schon alles schön und gut und sicher auch richtig. Wir können wirklich immer nur bei uns selbst schauen. Diese ganze Thematik birgt aber auch eine große Gefahr, nämlich die Gefahr, dass wir uns zu Tode optimieren, uns selbst auflösen und jede emotionale Regung als "Trigger" sehen, als einen Hinweis auf eine Wunde.

Manchmal "triggert" uns aber auch etwas ganz anderes. Manchmal regen sich nämlich auch einfach mal unsere eigenen Bedürfnisse und Ansprüche. Manchmal fühlen wir uns in Begegnungen unwohl, weil wir Dinge über uns ergehen lassen, die uns nicht gut tun. Und dann glauben wir, wir würden uns unwohl fühlen, weil da ein Thema für uns drin steckt. Dann müssen wir nur so lange an uns arbeiten, uns optimieren und heilen, bis wir so geschmeidig sind und diesem Menschen wieder begegnen können, ohne dass es etwas mit uns macht.

Was für eine Illusion! Was für ein Schmarrn (wie der Bayer sagt)!!!! Wenn da zum Beispiel jemand ist, der dich permanent zutextet, ständig über deine Grenzen geht, der dich als Mülleimer benutzt und dich als Menschen überhaupt nicht mehr sieht und du dich in dieser Begegnung unwohl fühlst, dann ist das eine verdammt gesunde Reaktion von dir. Dann gibt es da nichts mehr zu heilen bei dir. Dann hat das genau so viel mit dir zu tun, dass du dich umdrehen darfst und gehen darfst. Das ist alles, was es da zu tun gilt. Du musst nicht so lange an dir rumbasteln, bis du diesen Menschen ertragen kannst. NEIN!!!!!!! Hör bitte auf mit sowas.

Du übergehst damit völlig deine Grenzen. Du nimmst dir selbst die Würde. Du lässt dir deinen Raum nehmen. Du sagst dir mal wieder, dass mit dir was nicht stimmt, sonst könntest du ja diesem Menschen begegnen. Wenn dieser Mensch aber nunmal so gar nicht auf deiner Frequenz ist, dann ist es sogar ziemlich gut, dass du die Begegnung mit ihm nicht haben kannst.

Es ist nicht das Ziel, so lange an dir rumzuschrauben, bis du angepasst genug bist. Es ist das Ziel, Menschen zu finden, die dich so nehmen wie du bist. Bei denen du dich wohl fühlst, ohne erst ein Optimierungsprogramm zu absolvieren. Das Ziel ist, deine Herde zu finden. Und die gibt es!

Ich hab soooo viele Jahre gedacht, dass mit mir irgendwas nicht stimmt. Immer war ich die Komische. Egal, um welche Gruppe Menschen es ging, irgendein Teil von mir, war immer scheinbar inkompatibel. Irgendwas fühlte sich immer unrund an. Irgendwie gehörte ich schon dazu, aber nie so ganz. Und ich versuchte mich anzupassen, zu verändern, versteckte manche Ansichten in den Begegnungen, nur um nicht anzuecken, nur um nicht schon wieder die Komische zu sein, die Anstrengende, die, die Dinge hinterfragt, die, die die Dinge einfach anders sieht, die nichts als gegeben hinnimmt, die auch einfach mal schweigen will, die nicht immer Action braucht, die in die Tiefe gehen will, die Träume und Visionen hat, die Menschen in ihrer Essenz erleben will.

Da war diese unstillbare Sehnsucht in mir, endlich irgendwo dazuzugehören, endlich Meinesgleichen zu finden. In einer medialen Coaching-Session kam es dann auf den Punkt raus: Ich suche nach meiner Herde! Und die gute Nachricht: Diese Herde gibt es tatsächlich. Meine Sehnsucht war völlig begründet UND diese Sehnsucht ist so menschlich und normal, so natürlich, ein Grundbedürfnis von einem jeden, das wir haben dürfen und das nach Erfüllung strebt. Immer!

Wir müssen uns nicht verbiegen, um irgendwo dazuzugehören. Wenn wir uns verbiegen müssen, dann ist es nicht unsere Herde. Wenn wir einen Teil von uns verbergen müssen, dann ist es nicht unsere Herde.

Tatsächlich hab ich meine Herde gefunden. Erst kamen vereinzelte Mitglieder in mein Leben, so nach und nach, weit verstreut. Und seit gut eineinhalb Jahren rennen sie mich schier über den Haufen und scheinen hinter jeder Ecke vorzuspringen. WAS FÜR EIN GESCHENK!!!! Diese Herde ist so ein Gottesgeschenk! Endlich bin ich richtig. Endlich kann ich komplett und in jeder Sekunde so sein wie ich bin. Endlich gestehe ich mir diese Ansprüche zu. Endlich mache ich keine faulen Kompromisse mehr. Die Befürchtung, dass ich am Ende alleine dastehe, wenn ich so hohe Ansprüche habe, hat sich in Luft aufgelöst. Viel mehr weiß ich jetzt, dass genau diese Ansprüche dafür gesorgt haben, dass ich die Herde finde, denn wenn ich nicht zu mir und dem, was ich brauche stehe, dann kann es auch nicht in mein Leben kommen.

Heute kann ich sagen: Drunter mach ich es nicht mehr!!! Entweder, ich kann in einer Begegnung alles von mir zeigen, oder ich lass es sofort und gehe meiner Wege. Alles andere ist Zeitverschwendung. Entweder ich fühle mich pudelwohl, oder ich drehe mich um und gehe. (Natürlich hab ich vorher gecheckt, ob irgendwas davon mein Thema ist. 😉 )

Diese Herde endlich zu haben, ist eins der größten Geschenke überhaupt. Diese Zugehörigkeit erleben zu dürfen, macht mich demütig. In dieser Herde komplett ich sein zu dürfen und dafür auch noch gefeiert zu werden - unbezahlbar!

Es gibt diese Herde auch für dich!!!

Foto: Canva
Text und Gestaltung: Anja Reiche