Es gibt Menschen, von denen erwartet man einfach mehr.
Da ist der Chef, der es doch echt besser wissen müsste, besser können müsste. Er als Führungskraft, müsste doch wissen, wie man mit Menschen umgeht. Er müsste doch sehen, wo es in der Abteilung hakt und für Abhilfe schaffen. Er müsste doch in der Lage sein, klare Ansagen zu machen, wertschätzend zu kommunizieren, mit Konflikten umzugehen.
Da sind die Eltern, die ja echt mal sehen könnten, wer man eigentlich wirklich ist, die einen verstehen müssten, fördern, einem helfen, die ein gutes Beispiel sein sollten, die es überhaupt besser machen könnten, wenn sie nur wollen würden. Sie könnten doch unseren Weg endlich mal anerkennen und nicht ständig versuchen, einen zu verbessern, nicht ständig kritisieren, uns mit Sorgen überhäufen und ihre Ängste auf uns übertragen. Sie könnten uns doch einfach mal sein lassen, wie wir sind und akzeptieren, dass wir anders sind, dass wir anders leben, andere Entscheidungen treffen.
Da ist der Partner, der wirklich aufmerksamer sein könnte, wacher, der besser für sich sorgen könnte, mehr für sich tun könnte, sich schneller entwickeln könnte. Der mindestens genauso achtsam sein könnte, wie wir, genauso zielstrebig und mutig, genauso tief. Er könnte auch endlich mal ein Seminar besuchen, sein Ding machen, sich entfalten, aus dem Hamsterrad aussteigen.
Da ist der Guru, der spirituelle "Leader", der in seiner Position wirklich authentischer sein müsste. Gerade er müsste es können, öffentlich zu seinen Themen zu stehen, das Herz weit aufzumachen, sich verletzlich zeigen, es zugeben, wenn er keine Ahnung hat, ALLES offen ansprechen. Gerade er sollte nicht mehr das Bedürfnis haben, den Schein zu wahren, souverän zu wirken. Gerade er sollte zu seinen Schwächen stehen können, das leben, was er erzählt. Und am besten hat er überhaupt keine Themen mehr, keine Ängste, keine Wut, weil er ist ja der Guru, bei dem das alles weg sein müsste.
All diese Menschen haben eine ganz bestimmte Rolle. Der Chef, die Eltern, der Partner, der Guru. Alles Menschen, die eine gewisse Autorität haben, denen wir meistens erstmal glauben, wenn sie was sagen, denen wir glauben WOLLEN. Menschen, an die wir auch gerne unsere eigene Autorität abgeben oder zumindest abgeben würden, wenn sie nur etwas kompetenter wären.
Umso erschütterter sind wir, wenn sie unsere Erwartungen nicht erfüllen. Die Erwartungen, die wir an Menschen haben, denen wir folgen wollen. Plötzlich erkennen wir deren eigene Schwächen und Unzulänglichkeiten. Plötzlich merken wir, dass wir ihnen auch nicht trauen können, dass wir ihnen doch nicht folgen können, weil sie selber nix weiter sind als wir, weil sie auch noch Schwächen haben, Themen, Ängste. Weil sie manchmal eben auch nicht weiter wissen, "Fehler" machen.
Da stehen wir wieder, völlig verunsichert, auf uns selbst zurückgeworfen. Unser Leithammel ist plötzlich weg, das Bild zerstört von der "Führungskraft", vom Leader, der uns sagt, wo es langgeht, wie es richtig geht. Die Autorität geht den Bach runter, wir verlieren den Respekt, die Achtung, weil diese Menschen eben nicht das auf dem Kasten haben, was wir dachten, dass sie auf dem Kasten haben. Sie sind eben nicht so perfekt und rein und frei von Themen.
Und jetzt? Unsere Erwartungen wurden ent-täuscht. Herb enttäuscht. Wir hätten einfach mehr erwartet. Genau das ist das Problem.
Nur weil jemand Chef ist, hat er noch lange keine Menschenkenntnis. Nur weil jemand Kinder bekommt, hat er noch lange keine Ahnung, was das bedeutet und was das Kind braucht. Nur weil jemand mein Partner ist, ist er noch lange nicht perfekt und "fertig" entwickelt. Nur weil jemand in der Öffentlichkeit steht und wunderbare Dinge vermitteln kann, ist er noch lange nicht angstfrei, erleuchtet und hat keine Schwachstellen mehr.
Auch wenn wir das alles gerne hätten, weil dann unser Weltbild nicht ins wanken kommt, weil wir uns an jemandem orientieren können, einen Teil unserer Verantwortung abgeben können, weil da jemand ist, der weiß, wie es geht, was gut für uns ist, den wir ansprechen können, wenn es hakt, wenn wir selbst nicht weiter wissen. Diesen perfekten Führer werden wir niemals außerhalb von uns finden. Dieser Führer dürfen wir selbst für uns sein.
Alles, was wir von diesen Menschen in bestimmten Rollen erwarten, dürfen wir selbst sein. Wir sind unser Chef, wir sind unsere eigenen Eltern, wir sind unser perfekter Partner, wir sind unser eigener Guru. Nur wir können wirklich wissen, was gut für uns ist, nur wir selbst können uns anerkennen, für uns die besten Lösungen finden, die besten Entscheidungen treffen, uns am besten selbst verstehen und für uns sorgen. Das muss niemand außerhalb von uns tun.
Wir suchen nach einer Sicherheit, die wir nur in uns selbst finden können. Wenn uns diese Menschen dann ent-täuschen, dann nur, weil wir uns unserer Sicherheit beraubt fühlen. Plötzlich geht da scheinbarer Halt verloren. Plötzlich ist da keiner mehr, dem wir folgen können, weil wir von ihm ent-täuscht wurden. Gott sei Dank wurden wir enttäuscht und auf uns selbst zurückgeworfen.
Wir dürfen unserer eigenen Weisheit und Wahrnehmung wieder vertrauen, unserer eigenen göttlichen Anbindung. Diese Weisheit muss nicht von außen kommen. Kann nicht von außen kommen. Und vor allem dürfen wir uns unsere eigenen Schwächen und scheinbaren Unzulänglichkeiten wieder zugestehen, dann brauchen wir auch keinen perfekten, makellosen Leader. Dann dürfen auch alle anderen Schwächen haben. Wir haben sie ja auch und müssen daran auch nichts ändern.
Schrauben wir unsere Erwartungen wieder runter. Das entspannt vor allem uns selbst. Dann haben wir auch nicht den hausgemachten Stress, perfekt sein zu müssen, weil wir davon ausgehen, dass wir von anderen mit den gleichen hohen Erwartungen betrachtet werden, wie wir die anderen betrachten.
Einmal Atmen für alle, bitte!
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Foto: Canva Text und Gestaltung: Anja Reiche |