Heute möchte ich euch eine Weihnachtsgeschichte schenken. Eine Geschichte, die in den letzten Tagen auf die Welt wollte und von der ich bei den ersten Sätzen, die mir in den Kopf kamen, nicht wusste, wie sie ausgehen würde. Heute wollte sie zu Ende geschrieben werden. Ich bin einfach nur dankbar und tief berührt von diesem Schöpfungsprozess. Für mich ein großes Wunder...
Ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk
Die Straße lag dunkel da. Der Schnee ließ sie dennoch magisch leuchten. Er war alleine, hörte nur das Knirschen unter seinen Füßen, wenn er den nächsten Schritt in das jungfräuliche Weiß machte. Er klappte den Kragen von seinem Mantel hoch und zog die Mütze noch tiefer in die Stirn, schob das Kinn weiter in den Schal. Es war rattenkalt und normalerweise wäre er um die Uhrzeit nicht mehr draußen unterwegs. Doch es hatte ihm keine Ruhe gelassen. Er musste zu ihr. Während er so ging kamen ihm bunte Erinnerungen an gemeinsame Zeiten. Lachende Gesichter, Albernheiten und ganz nahe, vertraute Momente zogen in seinem Geist vorbei und erhellten sein Inneres, wärmten ihn. Was hatten sie nicht alles zusammen erlebt. Auch schwere Zeiten voll Trauer und Schmerz hatten sie geteilt, gemeinsam durchgestanden. Und mochte es auch noch so hart gewesen sein, sie konnten sich immer aneinander festhalten wie Ertrinkende am Rettungsring. Sie standen sich bei, hörten sich zu, fingen sich auf und irgendwann ging immer wieder die Sonne auf und das Unwetter des Lebens verzog sich wieder. Nach jedem Sturm waren sie sich noch näher, kannten sich besser, liebten sich mehr. Sie waren sich sicher, dass sie alles zusammen meistern würden, dass sie ewig zusammenbleiben würden. Er blieb stehen und schaute sich um. War er überhaupt noch richtig? Irgendwie kam ihm die Gegend fremd vor. Aber vielleicht schlugen ihm auch nur die Dunkelheit und die schneebedeckten Gassen ein Schnippchen. Er senkte den Kopf wieder in seinen Mantelkragen und setzte den Weg fort. Wieder kamen Erinnerungen. Sie stritten sich. Das geschah damals zu der Zeit sehr oft. Fast täglich. Irgendwann hatte das angefangen. Er konnte gar nicht mehr genau sagen, wann. Ein jedes Gespräch, so harmlos es auch angefangen hatte, endete in einer Auseinandersetzung. Sie schienen, nicht mehr die gleiche Sprache zu sprechen, nur noch aneinander vorbei zu reden. Dann hatten sie sich irgendwie gar nichts mehr zu sagen und eines Abends als er nach Hause kam, war sie weg. Einfach weg. Ihre Abwesenheit riss riesige Löcher in die Wohnung. An den Stellen, an denen vorher ihre Sachen gestanden hatten, klafften große Lücken, die sich anfühlten wie Wunden, wenn er sie betrachtete. Was war schief gelaufen? Wie hatte das passieren können? Wieso hatten sie das nicht verhindern können? Abwenden? Wieder blieb er stehen und sah sich um. Er stand vor der Kirche. Da hatte er sich ja ganz schön verfranzt. Wie von selbst ging er die zwei Stufen zur Eingangstür hoch und drückte die schwere, eiserne Klinke. Tatsächlich öffnete sich die Tür. Er trat ein und zog leise das massive Holz hinter sich ins Schloss. Das Innere war schwach von den Kerzen erleuchtet, die vorne im Altarraum brannten. Noch nie zuvor war er nachts in einer Kirche gewesen. Seltsames Gefühl, irgendwie unheimlich aber auch tröstlich. Nach ein paar Schritten setzte er sich in eine Bank und ließ die Stille und das Kerzenlicht auf sich wirken. Hier hatten sie damals geheiratet. Was für ein glücklicher und schöner Tag das gewesen war. Niemand hätte damals vermutet, dass ihre Beziehung irgendwann den Bach runter ging. Er schloss die Augen und Tränen rannen über seine Wangen, kullerten ungehindert auf seinen Mantel.
„Du hast dich selbst verloren und damit auch sie.“
Er riss erschrocken die Augen auf und sah sich um. Aber niemand war zu sehen, zu dem diese Stimme gehören könnte. Eine Gänsehaut jagte ihm über den Körper. Und obwohl das gerade ziemlich spooky war, wusste er, dass er keine Angst haben brauchte, dass er sicher war. Er schloss wieder die Augen und lauschte.
„Ich bin froh, dass du mir endlich zuhörst. Ich habe schon so oft versucht, mit dir zu reden. Es musste wohl erst zum Äußersten kommen.“
Langsam fand er sich mit der Situation ab, dass er diese herrenlose Stimme hörte. Also saß er da einfach mit geschlossenen Augen und hörte zu. Es schien wichtig zu sein. Plötzlich spürte er, dass sich jemand neben ihn in die Bank setzte. Wieder riss er die Augen auf und sah einen alten Mann neben sich, graue Haare, grauer Bart, schwarzer Mantel, schwarzer Hut und trotz des Alters eine stattliche Erscheinung. Der Mann blickte unverwandt geradeaus.
„Erkennst du mich nicht?“
Stumm schüttelte der Jüngere den Kopf. Er hatte den Alten noch nie zuvor gesehen.
„Normalerweise siehst du mich auch nicht, Ben. Aber ich dachte, du hörst mir vielleicht besser zu, wenn du mich sehen kannst.“
Ben starrte den Alten nur mit großen Augen an und sagte nichts.
„Gesprächig bist du ja nicht gerade, was? Na, umso besser. Dann kann ich ja loslegen.“
„Warte!“ Ben hatte seine Sprache wiedergefunden. „Sag mir erst, wer du bist.“
„Hast du wirklich keine Ahnung? Nicht mal eine Vermutung?“
Ben senkte den Kopf und schluckte. Doch, eigentlich wusste er es schon, seit dem ersten Satz, der ihn hier in der Kirche so unerwartet getroffen hatte. Eigentlich hatte er die ganze letzte Zeit gespürt, dass ihm was fehlte. Erst hatte er gedacht, dass Lara ihm fehlte, seine Frau. Aber wenn er ehrlich war, dann hatte er diese Leere auch schon gespürt als Lara noch da war. Tief in ihm hatte er irgendwann erkannt, was ihm wirklich fehlte, aber er hatte Angst. Angst, hinzusehen, Angst vor dem, was sich zeigen würde, Angst, überrollt und überwältigt zu werden, den Boden unter den Füßen zu verlieren, Angst, seinen Schatten ins Auge zu sehen.
„Dacht ich‘s mir doch.“
Ben sah den alten Mann nun an. Es kostete ihn einige Überwindung, ihm fest in die Augen zu sehen. „Du bist meine Seele, richtig?“
Der Alte nickte langsam und ließ den Blick auf Ben ruhen. „Weißt du, Ben, eigentlich brauchst du überhaupt keine Angst vor mir zu haben. Ganz im Gegenteil, eigentlich solltest du dich auf mich und über mich freuen. Ich weiß nicht, was euch Menschen immer dazu veranlasst, vor dem wegzulaufen, was eure größte Freude, euer größtes Geschenk, euer größter Halt ist. Ihr versucht euch an allem Möglichen im Außen festzuhalten, versucht euch über Dinge und Gegenstände zu definieren, ja sogar zu identifizieren und vergesst dabei, wer ihr wirklich seid. Ihr seid nicht euer Auto und auch nicht euer Kontostand, ihr seid nicht eure Diamantohrringe und auch nicht der Dienstgrad auf der Arbeit. Wenn ihr am Ende dieses Erdenlebens euren Körper verlasst, dann hat das alles keinen Wert mehr. Das letzte Hemd hat keine Taschen, wie ihr immer so schön zu sagen pflegt. Was ihr am „Ende“, das in Wahrheit keine Ende ist, wirklich mitnehmt, das sind die Momente, in denen ihr gefühlt habt, in denen ihr geliebt habt, in denen ihr ganz da ward, präsent. Es sind die Momente, in denen ihr euch voll und ganz lebt, in denen ihr euch entdeckt und an euch selbst erfreut, in denen ihr der Welt eure Potentiale schenkt, eure Freude schenkt. Diese Momente sind es, die ihr wirklich mitnehmt und in eurer Seele speichert, die eure Seele nähren. Und wenn ich sage „voll und ganz lebt“ dann meine ich damit nicht nur die schönen Gefühle. Das ist einfach. Nein, damit meine ich alle Gefühle, alle Seinszustände. Denn kein Gefühl, kein Seinszustand ist weniger wert als der andere. Es geht nicht darum, etwas weghaben zu wollen, eine Seite auszuschließen und nur die andere leben zu wollen. Es geht nicht darum, gut zu sein und das „Schlechte“ zu verurteilen und zu bekämpfen. Das Schlechte gibt es nicht. Das Schlechte ist eine wechselhafte Definition von euch Menschen. Es geht hier darum, wieder vollständig zu werden und dann auch zu sein. Einen Teil vom Leben ablehnen, heißt einen Teil von dir ablehnen und damit schwächst du dich, machst dich krank und hart und unvollständig. Ihr orientiert euch so sehr an äußeren Werten und materiellen Dingen, lauft irgendwelchen Dogmen und Richtlinien hinterher, passt euch der Masse an, bis ihr wirklich vergessen habt, wer ihr überhaupt seid, was euch ausmacht, was IHR wollt. Dieses Spiel treibt ihr so lange, bis selbst eure Seelen keine Lust mehr haben und einen Großteil von sich abspalten, euch ihre Energie entziehen und nur noch einen kleinen Anteil zurücklassen, der euren Körper am Leben hält. Aber dieses Leben ohne eure Seele ist kein Leben. Es ist eine bloße Existenz, die euch nicht nährt, die euch nicht erfüllt, die euch leer fühlen lässt. Und ihr seid ja auch tatsächlich leer. Innerlich leer. Denn eure Seele füllt euch nicht mehr aus. Damit habt ihr den Zugang zu eurer inneren Weisheit verloren, zu eurer Intuition, zu eurem Herzensweg, zu euch selbst. Die Leichtigkeit ist weg, die Freude, die Fülle. Ihr seid nur mehr Hüllen, die umherwandeln und die Leere zu stopfen versuchen. Mit Liebe und Aufmerksamkeit, die ihr von anderen einfordert, mit Gegenständen und Nervenkitzel, der euch kurzfristig wieder das Gefühl gibt, lebendig zu sein. Und ihr merkt, dass euch was fehlt, dass ihr haltlos umherirrt, aber ihr wisst nicht, was ihr dagegen tun könnt, weil ihr an der falschen Stelle sucht. Die Lösung wird sich nicht im Außen zeigen, sie wird euch nicht von anderen geliefert werden. Die Lösung werdet ihr nur in eurem Inneren finden, wenn ihr endlich mal still werdet, die Klappe haltet und die Füße stillhaltet. Aber davor habt ihr Angst. Denn in der Stille könnten eure Schatten hochkommen, eure dunkelsten Ängste, eure unliebsamsten Gefühle.“
Ben saß da, den Kopf schuldbewusst gesenkt und hörte zu. Er fühlte sich ertappt. Jedes einzelne Wort traf ins Schwarze. Sich das einzugestehen, tat echt weh.
„Ich wollte gar nicht so hart mit dir ins Gericht gehen, aber manchmal könnte ich schon verzweifeln, ob so viel Sturheit und Blindheit der Menschen.“
Ben sah auf. „Was kann ich tun, dass du bei mir bleibst?“ Er klang kleinlaut und sehnsüchtig. Ja, er sehnte sich wirklich danach, sich endlich wieder vollständig zu fühlen, nicht mehr suchen zu müssen, ohne zu wissen, nach was er suchte. Er wollte wieder ganz er selbst sein. Er wollte wieder Freude und Leichtigkeit in seinem Leben haben, Halt und eine gefühlte Sicherheit, Wärme und Liebe, innere Ruhe und vor allem Frieden in sich. Er wollte ankommen, bei sich ankommen. Seine Wurzeln in diesem Leben schlagen und sich Flügel wachsen lassen. Er wollte einen Platz in diesem Leben, SEINEN Platz!
Seine Seele griff nach seiner Hand. „Machen wir uns an die Arbeit.“
Mit diesem Satz riss es Ben fort. Er fühlte sich in einen Strudel gezogen, wurde weggesogen, herumgewirbelt. Wilde Farben und Formen tanzten um ihn, er hörte die seltsamsten Geräusche und Klänge, tausend Stimmen und ein Brausen. Fetzen aus Erinnerungen schossen an ihm vorbei, flackerten auf, verschwanden wieder. Wirre Bilder, Fratzen, Gestalten. Und dann war es still und ruhig. Er schlug die Augen auf und fand sich mitten in einem weißen, leeren Raum. Er lag am Boden. Helles, warmes Licht kam aus einer unsichtbaren Quelle. Ben richtete sich auf. Ihm gegenüber in der Wand war eine Tür, ebenfalls weiß. „Hallo?“ Nichts. Ben sah sich um. „Seele, bist du da irgendwo?“ Ben rief lauter. Wieder nichts. Nur Stille, das Licht und der Raum. Plötzlich öffnete sich zaghaft die Tür einen spaltbreit. Ben rutschte ein Stück zurück und wurde wachsam. Die Tür ging noch etwas weiter auf und eine kleine, verwahrloste Gestalt kam zum Vorschein. Verängstigt und zurückhaltend trat sie ein. Bei genauerem Hinsehen sah Ben, dass es sich um einen Stoffhasen handelte, der zum Leben erwacht zu sein schien. Das ehemals weiße Fell war zottelig und schmutzig. Die Nähte waren teilweise aufgegangen und die Füllung aus Watte quoll an diesen Stellen heraus. Das eine Ohr war abgeknickt und hing schlaff nach unten. Generell wirkte das Kerlchen ziemlich verkommen und ausgemergelt. Verschüchtert stand der Hase, der im Stehen nicht größer war als Ben im Sitzen, da, starrte zu Boden und hätte sich wohl am liebsten in Luft aufgelöst. Ben bekam Mitleid. „Wer bist du?“, fragte er den zerknautschten Hasen. Der Hase knetete verlegen seine Pfotenhände und nuschelte: „Ich bin deine Angst.“ Ben musste lachen. „Entschuldigung, habe ich dich eben richtig verstanden? Du bist meine Angst?“
„Ja.“, kam es leise vom Hasen. Ben zog die Beine in den Schneidersitz und lehnte den Oberkörper etwas nach vorne. „Komm her!“, bat er freundlich und streckte ihm die Hand entgegen. Der Hase bewegte sich keinen Millimeter. „Traust du dich nicht?“, fragte Ben und ließ die Hand wieder sinken. Der Hase schüttelte den gesenkten Kopf: „Du wolltest mich so lange nicht bei dir haben.“ Ben durchzuckte ein Schmerz. Das hatte gesessen. Tränen stiegen ihm in die Augen und plötzlich wurde er von Reue gepackt und er verstand. Dieses Wesen sah so verwahrlost aus, weil er es nicht dahaben wollte, weil er es vernachlässigt hatte, weil er sich nicht gekümmert hatte, es immer wieder fortgeschickt hatte. So viele Situationen fielen ihm plötzlich ein, in denen er Angst gehabt hatte und sie einfach weggedrängt hatte, sich abgelenkt hatte, sie nicht dahaben wollte, nicht fühlen wollte. Auf einmal tat ihm das unheimlich leid und er hätte sich ohrfeigen können. Auf allen Vieren kroch er das kurze Stück zum Hasen und setzte sich vor ihn hin. „Es tut mir leid! So unendlich leid!“ Der Hase blickte hoch, Hoffnung im Blick, doch auch Zweifel waren noch darin zu erkennen. „Meinst du das ernst?“, fragte er zögerlich. Ben nickte. „Darf ich jetzt da sein?“, hakte die Angst nach. Ben nickte wieder, diesmal mit vor Schuldgefühlen verzerrtem Gesicht. Er streckte noch einmal die Hand aus und diesmal griff der Hase danach und legte seine plüschige Pfote in Bens Hand. Das tat gut, beiden. Ben zog den Hasen auf seinen Schoß und in seine Arme, drückte ihn fest an sich. Was war er für ein Hornochse gewesen. Dieses Wesen wollte doch auch nichts weiter als geliebt werden und da sein dürfen, angenommen und akzeptiert werden und was hatte er gemacht? Er hatte es immer wieder fortgestoßen, weggeschickt und mit Verachtung gestraft. Ben ließ nun seinen Tränen freien Lauf und auch der Hase weinte. Vor Erleichterung und Freude darüber, dass er jetzt endlich angenommen wurde. So saßen die beiden eine ganze Weile und hielten sich einfach nur fest, weinten immer wieder ein bisschen und genossen die Nähe des anderen. Nach einiger Zeit rückte der Hase ein wenig von Ben ab. Ben staunte. Das vorhin noch so zerzottelte Fell war wieder sauber und geschmeidig, glänzte in dem warmen Licht des Raumes. Das abgeknickte Ohr hatte sich wieder aufgerichtet, die Nähte waren wieder ganz. Der Hase sah wieder wohlgenährt aus und die Augen strahlten. „Das hat deine Liebe bewirkt.“, erklärte der Hase und noch während er den Satz sprach, löste er sich in tausend Lichtfunken auf und verschwand. Ben blieb überrascht, aber auch zufrieden zurück. Während er noch so da saß und in Gedanken dem eben Erlebten nachhing, ging die Tür wieder auf. Wieder stand da eine verwahrloste, zerlumpte Gestalt und Ben begann zu verstehen. Eins ums andere Mal öffnete sich wieder die Tür und all seine verdrängten und abgelehnten Gefühle kamen nacheinander in den unterschiedlichsten Gestalten in den Raum und damit zu Ben. Alle wollten das Gleiche – sie wollten einfach nur da sein dürfen und angenommen werden. Ben nahm ein jedes liebevoll in den Arm und fühlte die einzelnen Gefühle aufmerksam und bejahend. Da war die Wertlosigkeit und die Kleinheit, die Schuld und die Scham, die Ohnmacht und die Wut, die Unzulänglichkeit und noch viele mehr. Sie alle hatte er im Laufe seines Lebens immer wieder verdrängt, nun aber war er bereit, sie anzunehmen und aufrichtig zu lieben. Sie waren ein Teil von ihm und gehörten genauso zum Leben wie all die angenehmen Gefühle. Das hatte Ben nun begriffen. Es war völlig in Ordnung, sich klein zu fühlen, schwach zu sein oder traurig, auch wenn in der heutigen Gesellschaft kaum einer dazu stand, ja es sogar als unerwünscht galt und unnormal sich so zu fühlen. Wie viele rannten dem immerwährenden Glück nach, den 365 Tagen Sonnenschein. Aber so war das Leben nicht. Das Leben hatte so viele Facetten und eine jede hatte ihre Berechtigung und machte es bunt und reich, machte die Welt größer.
Als sich das letzte Wesen in hellen Funken aufgelöst hatte, blieb die Tür zu. Ben saß da und war einfach nur überwältigt. Überwältigt von all den „negativen“ Gefühlen, die so schlimm gar nicht waren. Es waren lediglich die Geschichten, die er sich über diese Gefühle erzählt hatte, die sie schlimm machten. Er war kein Versager, nur weil er auch mal Angst hatte. Er war kein schlechter Mensch, nur weil er auch mal schwach war. Mit ihm war alles in Ordnung, auch wenn er sich manchmal ohnmächtig fühlte. All das durfte sein und mit der Erlaubnis, die er sich nur selbst geben konnte, all das fühlen zu dürfen und SEIN lassen zu können, fiel eine riesen Last von ihm ab. Es war, als ob er einen inneren Kampf endlich beendete und die Waffen sinken ließ. Es tat so gut, sich gegen all das nicht mehr wehren zu müssen. Es war so viel einfacher, es einfach SEIN zu lassen. Dieses SEIN lassen war ein einziges LosLASSEN. Er merkte, wie er sich immer mehr löste, entspannte, lockerer wurde. Die Schultern, die er so oft angespannt Richtung Ohren zog, sanken nach unten. Alles schien weicher zu werden.
Da saß er nun und blickte auf die letzten Jahre zurück. Auf das hektische Rennen im Hamsterrad, höher, schneller, weiter. Er hatte Ziele verfolgt, von denen er sich nun gar nicht mehr sicher war, ob es überhaupt seine Ziele waren. Er wollte ES schaffen, wollte aufsteigen, Ansehen gewinnen, Einfluss, wollte sich hocharbeiten und ganz nach vorne kommen. Doch wozu, fragte er sich jetzt. Wozu das Ganze? Kein einzelner Teilschritt hatte ihn glücklicher gemacht. Kaum war ein Etappenziel erreicht, hatte er schon das nächsthöhere Ziel im Visier und der Stress wurde noch größer. Anstatt wie erhofft zufriedener zu werden, wurde er immer unzufriedener, wollte noch mehr in noch kürzer Zeit. Die Arbeitstage wurden länger und länger, die Laune schlechter und schlechter, die Energie immer weniger. Er war gefangen in seiner eigenen Welt und nahm nichts mehr um sich herum wahr. Und warum das alles? Weil er geglaubt hatte, nicht genug zu sein, nicht wertvoll zu sein, so wie er war, sondern dass er erst noch etwas werden musste, dass er etwas aus sich machen musste. Und bei all dem Wahnsinn hatte er sich erst selbst verloren und dann seine Frau.
So klar wie jetzt, hatte er noch nie gesehen. Er hatte sich verrannt und zwar gründlich. Die ganze Geschäftigkeit und das Streben nach Erfolg waren nur der schwache Versuch, sich von seiner eigenen vermeintlichen Unzulänglichkeit abzulenken, sie wett zu machen. Lara hatte so oft versucht, ihm das alles klar zu machen, aber er hatte es nicht hören wollen, hatte es immer besser gewusst. Kein Wunder, dass sie irgendwann die Nase voll hatte und ging. Erschöpft von all diesen Erkenntnissen ließ er sich nach hinten umfallen und schloss die Augen.
Ben erwachte vom Zuschlagen einer schweren Holztür. Er öffnete die Augen und sah über sich eine stuckverzierte Kirchendecke. Er lag auf der Kirchenbank, auf der er vorhin noch mit seiner Seele gesessen hatte. Ruckartig setzte er sich auf und sah sich um, doch der Alte war nirgends zu sehen. Er war verschwunden. Wie lange mochte er hier gelegen haben? Ben sah auf seine Armbanduhr. Seit er die Kirche betreten hatte war gerade mal eine Stunde vergangen. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. So viel war seither in ihm passiert. So viel war ihm seither klargeworden. Er war nicht mehr der Mensch, der er noch vor einer Stunde war. Er fröstelte, aber er konnte noch nicht gehen. Mit einer entschlossenen Bewegung glitt er von der Bank und kniete sich auf das dafür vorgesehene Brett im Fußraum, faltete die Hände und legte seine Stirn darauf. Dann sprach er leise ein Gebet, das ihm wie von selbst in den Sinn kam. Worte, die er vorher noch nie gehört hatte, Worte, die aus seinem Inneresten kamen, die das ausdrückten, was ihn gerade bewegte und am Herzen lag:
„Meine liebe Seele, ich möchte, dass du dich in mir und um mich wohl fühlst. Ich möchte, dass du gerne bei mir bist. Hilf mir dabei, meinen Geist und meinen Körper mit dir zu vereinen und in Einklang zu bringen. Du kennst den Weg, den ich hier gehen will. Du weißt, warum ich hier auf diese Erde gekommen bin, welche Erfahrungen ich machen möchte, was wirklich wichtig und richtig für mich ist. Du bist der Anführer. Zeig mir den Weg. Ich folge dir. Hilf mir, dich in dem Lärm des Alltags zu hören und gib mir den Mut, meinen ganz eigenen Weg zu gehen. Du hast mein höchstes Wohl im Sinn. Ich weiß das und ich vertraue dir. Niemals will ich wieder den Kontakt zu dir und damit zu mir verlieren. Ich will dir und mir treu bleiben. Ich will ich sein, mit allem, was mich ausmacht, echt sein, mich selbst leben und als das annehmen, was ich bin. Ich bin ein heiliges, wertvolles Wesen, einfach nur, weil ich BIN. Ein jeder ist das. Ich achte und ehre mich in jeder Sekunde und tue mir das Beste. Ich tue mir nur das, was ich einem jeden in größter Liebe tun würde. Ich sorge daher gut für mich. Durch mich fließt Liebe und Licht in die Welt. Ich bin mir meiner Kraft und Heiligkeit voll und ganz bewusst. Gott wirkt durch mich, das Leben wirkt durch mich und erfährt sich durch mich. Ich verneige mich in Ehrfurcht und Demut vor mir und meiner wunderbaren Seele, vor meiner Einzigartigkeit, vor meiner Göttlichkeit, vor jedem Aspekt des Lebens, vor jedem Gefühl und jedem Seinszustand. Ich achte und ehre mich und ein jedes Wesen und alles, was existiert! Amen!“
Als er verstummte, merkte er, dass er weinte. Das alles war so wahr und so bewegend und so wohltuend. Er hatte seit Jahren mal wieder das Gefühl, sich selbst zu spüren und zu sehen, sich wahrzunehmen. Eine tiefe Wärme breitete sich in seinem Körper aus. Er hob seinen Kopf und atmete mit geschlossenen Augen ganz tief ein. Wie lebendig er sich fühlte, wie kraftvoll und vollständig. Keine von all den vermeintlichen Sorgen im Job war noch wichtig. Kein erreichtes Unternehmensziel konnte ihm je dieses Gefühl geben, das er jetzt gerade hatte. Tiefe Liebe durchströmte ihn und eine unendliche Dankbarkeit dafür, dass er vorhin dem irrsinnigen Impuls gefolgt war, mitten in der Nacht loszulaufen. Voller Übermut stand er auf, trat in den Mittelgang, breitete seine Arme aus und drehte sich überschwänglich im Kreis, lachte und weinte gleichzeitig. Was für ein Geschenk! Das beste Geschenk, dass er je an Weihnachten bekommen hatte und er hatte es sich selbst gemacht.
„Geh zu ihr! Sie wartet auf dich - auf den echten Ben!“ Ben hielt inne und blieb stehen. Diese Stimme kannte er jetzt. Sie kam aus seinem Herzen und ab sofort hatte sie das Sagen. Und damit lief Ben los, raus in die kalte Nacht des 24. Dezembers, raus in sein neues Leben, zu Lara, zurück zu sich selbst und seinem wahren Wesen.
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Foto und Text: Anja Reiche |