Wenn
es darum geht, zu sich zu stehen, echt zu sein und keine faulen
Kompromisse einzugehen, dann bedeutet das gerade im zwischenmenschlichen
Bereich ganz viel Klarheit. Und die braucht manchmal echt Mut. Gerade
da haben wir so viele alte Überzeugungen.
Immer schön bitte und danke sagen.
Nett grüßen und lächeln, wenn jemand entgegen kommt.
Auch den unliebsamen Onkel, der einen nur dumm anredet, freundlich behandeln.
Generell zu Verwandten und Nachbarn nett sein.
Den Schein wahren, damit alle einen mögen. Die wirkliche Meinung wird
dann hinterher gesagt, wenn derjenige weg ist. Da wird dann richtig
gelästert.
So bin ich groß geworden. So wurde ich erzogen. Immer
schön ins Gesicht lachen, auch wenn ich denjenigen nicht leiden kann.
Nur nicht anecken, nur nicht auffallen, immer schön unterordnen. Die
Meinung der anderen ist richtiger und wenn ich doch glaube, dass meine
richtig ist, dann sag ich das niemals direkt ins Gesicht.
Über
die Jahre hab ich mich da raus gewurschtelt, wurde mutiger, offener,
radikaler, hab meine Meinung vertreten und mich selbst ernst genommen.
Ich wurde authentischer.
Mittlerweile sortiere ich aus. Ich
verabschiede Menschen aus meinem Leben, die nicht mehr passen, die nicht
die gleiche Sprache sprechen, die mir nicht gut tun. Ich entferne
"Freunde" auf Facebook, lösche Kommentare, lösche Kontakte, beantworte
Nachrichten nicht, wenn es sich nicht stimmig anfühlt. Ich folge meinem
Gefühl, ganz radikal. Dachte ich...
Bis mir gestern klar wurde,
dass das so nicht ganz stimmt. Ich tue es manchmal immer noch. Ich bin
manchmal immer noch unehrlich. Ich lächle Menschen ins Gesicht und bin
freundlich und denk mir innerlich "was für ein Mist". Nur um des lieben
Frieden Willen. Und oft auch aus Angst vor Ablehnung.
Ich hab es nicht bemerkt. Das lief so
automatisch, so ganz von alleine. Erst als ich mir gestern die Frage
gestellt habe, was in meinen Zähnen noch so arbeitet, was da noch für
ein Konflikt ist, wo ich gegen mich kämpfe, wo ich ein gespaltenes
Verhältnis habe (ich habe einen Haarriss längs in jedem Schneidezahn),
kamen die Antworten, die mich echt verblüfft haben.
Kein Wunder,
dass meine Schneidezähne gespalten sind, sich locker anfühlen und für
mich auf Fotos manchmal sehr seltsam aussehen. Manchmal habe ich sogar
das Gefühl, sie verschieben sich. Und tatsächlich ist dieses Phänomen in
unserer Familie verbreitet. Bei den Frauen mütterlicherseits.
Ich kann so irgendwann nicht mehr "schön" ins Gesicht lachen. Ich (die
Frauen unserer Familie) kann dann gar nicht mehr schön lachen. Ich darf
dann mein wahres Gesicht zeigen, die hässlichen, wahren Gedanken. Mein
Körper sorgt dafür, dass ich niemandem mehr fälschlicherweise schön ins
Gesicht lachen kann, obwohl ich was ganz anderes über ihn denke, obwohl
ich ihn nicht mag. So krass! Unsere Körper sind einfach Wunderwerke.
Ich darf es mir wieder erlauben, unfreundlich zu sein. Noch ehrlicher anderen gegenüber.
Ich muss nicht nett sein, wenn ich keine Lust drauf habe. Andere müssen
keinen guten Eindruck von mir haben. Man muss mich nicht mögen. Ich
muss Freunde nicht "behalten", nur weil wir uns ja schon so lange
kennen. Wir dürfen uns trennen und uns sagen, dass es einfach nicht mehr
passt, dass wir an zu unterschiedlichen Punkten im Leben stehen, zu
unterschiedliche Weltbilder und Vorstellungen vom Leben haben.
Ich muss nicht nett sein, auch wenn es Verwandtschaft ist. Ich muss
nicht zum Geburtstag gratulieren, weil man das eben so macht. Ich muss
überhaupt nichts und ich darf andere damit "verletzen". Sie dürfen mich
für überheblich halten, für arrogant, für abgehoben. Sie dürfen mich
nicht mögen. Sie dürfen über mich schimpfen.
Ich will auf jeden
Fall nicht mehr schön tun, wenn ich es nicht 100% so meine. Ich will
schön echt sein, in meiner Echtheit schön sein. Mein Innen und Außen
wieder noch mehr vereinen.
Und ich entschuldige mich bei allen,
zu denen ich nicht ehrlich war, denen ich unbewusst etwas vorgemacht
habe. Das hat niemand verdient.
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Fotos: Canva Text und Gestaltung: Anja Reiche |