Sonntag, 29. Juni 2025

Egoismus - bin ich egoistisch, wenn ich mich um mich kümmere?

Egoismus ist nicht einfach nur ein schlechter Charakterzug. Er ist für meine Begriffe eine mögliche und logische Folge von Trauma. Meistens fürchten allerdings die „falschen“ Menschen, egoistisch zu sein, nämlich die, die sich um sich kümmern, um ihre emotionale Reifung und Bewusstwerdung. Ich mag das Ganze mal ein wenig auffächern und beleuchten und auch so einiges geraderücken. Der Text hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Er basiert auf meinen ganz persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen.

Ein Mensch, der früh traumatisiert wurde und daher im Wesen zersplittert, fragmentiert ist, der in der Entwicklung zu einem emotional gesunden, ganzheitlichen Menschen gestoppt wurde, ist meist zu weiten Teilen in einer Bewusstheit da, die nur Versorgung und Zugehörigkeit als Lebenssinn kennt. Die zentralen Fragen sind: "Wie bekomme ich das, was ich brauche?" und "Was muss ich tun, um dazuzugehören?" Danach wird alles bemessen und jede Handlung ausgerichtet. Diesen Zielen wird alles untergeordnet.

Es gibt so viele Lücken in der kindlichen Versorgung, viele Bedürfnisse, die überhaupt nicht gestillt wurden, Mangel und Fehlen überall, die auch im Erwachsenenalter alles überwiegen und noch erfüllt werden sollen.

Nun gibt es zwei verschiedene Arten von Überlebensstrategien mit einem dysfunktionalen, unterversorgenden Umfeld als Kind. Der Externalisierer versucht alles, was fehlt, im Außen zu bekommen. Sein Fokus liegt auf den anderen. Er verortet dort sowohl Problem als auch Lösung. Er spürt und reflektiert sich selbst kaum. Er reift nicht wirklich nach. Er kennt keine Verantwortung. Er bleibt zu weiten Teilen das brauchende Kind, auch als Erwachsener.

Der Internalisierer nimmt sich von Kindesbeinen an selbst in die Verantwortung - für sich und alle anderen gleich mit. Er sucht immer in sich. Sowohl Problem als auch Lösung, auch für alle anderen, deren Unfähigkeit er registriert. Er kennt sich in und auswendig. Er reift emotional sehr schnell, viel zu schnell, aus der Not. Verantwortung ist sein zweiter Vorname. Braucher und Versorger sind geboren. "Egoist" und "Empath".

Der Braucher sieht nur Versorger. Das Wohlergehen der anderen spielt keine Rolle. Ein kleines Kind braucht Versorgung und fragt sich nicht, wie die Versorger das hinbekommen. Die anderen werden nicht als Mensch gesehen, nicht als eigenständiges Wesen mit eigenen Gefühlen und Bedürfnissen, sondern lediglich als Bedürfniserfüller. Egoisten, unterversorgte, kleine Kinder in erwachsenen Körpern oder anders ausgedrückt emotional unreife Erwachsene, sind nicht in der Lage, sich in einen anderen hineinzuversetzen, hineinzufühlen. Sie können keinen anderen Blickwinkel einnehmen, als den ihren und haben daher keine Idee davon, was ihr Handeln für den anderen gerade bedeutet.

Der Internalisierer reift wie gesagt meist schnell nach, weil er sich um sich kümmert, sich in Frage stellt und immer zu „an sich arbeitet“ (oft zu viel und versucht die Probleme der anderen gleich mit in sich zu erlösen – kindliche Muster). Er wird innerlich tatsächlich in weiten Teilen erwachsen. Deswegen mag ich ihn als den emotional reiferen Erwachsenen bezeichnen.

Für diese Menschen - ich zähle mich dazu - ist es extrem wichtig, nicht mitleidig diesen "armen", unterversorgten Braucher-Wesen helfen zu wollen, weil die Not doch aber so deutlich spürbar ist und deswegen alles für sie zu tun, oder weil vielleicht Druck aufgebaut wird, Erwartungshaltungen zu spüren sind. Solange kein erwachsener Beobachter im anderen zugegen ist und der kindliche Anteil des anderen meinen (emotional reiferen) Erwachsenen anspricht und mit einem Versorger gleichsetzt, helfe ich nicht, ich erzeuge und fördere weiter Abhängigkeit. Ich werde in dem Fall einfach nur benutzt. Es findet eine kurze Befriedigung der Bedürftigkeit beim anderen statt, aber keine Nachreifung und Bewusstwerdung. Das Spiel ginge bis in die Ewigkeit. So wie früher. Für den emotional unreifen Menschen gibt es keinen Grund, sich zu bewegen. Es funktioniert ja.

Solche Kontakte fühlen sich für emotional gereifte Menschen nicht umsonst auslaugend, unbefriedigend, anstrengend und schal an. Ihr Wesen, ihr Befinden spielen darin keine Rolle. Es fließt alles von ihnen weg und nichts zu ihnen hin. Es ist nicht ausgeglichen. Sie füttern ein schwarzes Loch, wie sie es in der Kindheit schon getan haben.

Es ist enorm wichtig genau in solchen Kontakten, seine Grenzen deutlich zu machen, Nein zu sagen und den anderen auf sich selbst zurück zu werfen. Es ist vielleicht sogar immer wieder relevant, wenn es denn stimmig ist, dem anderen zu signalisieren, dass sich sein Verhalten gerade richtig widerlich anfühlt und den eigenen emotionalen Schmerz zum Ausdruck zu bringen, wenn z. B. im Miteinander gerade Manipulation stattfindet.

Die emotional unreifen Menschen brauchen im Grunde ehrliches Feedback und müssen erfahren, dass es andere, eigenständige Wesen gibt, die eigene Bedürfnisse, Gefühle und Grenzen haben. Das ist die eigentliche "Hilfe", die wir geben können. Eine ehrliche, aufrichtige Rückmeldung, die genauso direkt und vielleicht krass ist, wie sich das Verhalten des emotional unreifen Menschen für uns tief fühlende Wesen anfühlt.

Dem anderen so dann aber doch irgendwie helfen zu wollen und ihn zu mehr Bewusstheit zu bewegen, ist verführerisch, sollte aber dennoch nicht die Prämisse sein. Diese inneren Retter-Anteile kann ich mir direkt anschauen und nach Hause holen. Es geht viel mehr darum, schlicht meine Wahrheit zu sprechen und meine Integrität zu wahren, mich nicht benutzen und instrumentalisieren zu lassen, nicht von den Nöten der anderen steuern zu lassen. Die Rückmeldung dient lediglich dem authentischen Ausdruck meiner inneren Wahrheit.

Frei. Absichtslos. Für mich. Aus meinem Inneren des jeweiligen Moments gesprochen und gehandelt. In der Übereinstimmung mit meinem Körperempfinden, BEVOR vielleicht die Gedanken kommen, die Prägungen aus der Kindheit, die mich ja genau zu so einer Form des emotionalen Missbrauchs erzogen haben und mir gesagt haben, ICH wäre die Egoistische, wenn ich mich nicht benutzen lassen würde.

Interessanterweise wird Menschen, die anfangen, gesund Nein zu sagen, dann Egoismus vorgeworfen und zwar genau von denen, die nicht mehr beliefert werden, also von den eigentlichen Egoisten, die die Bedürfniserfüllung immer noch im Außen suchen.

Mich um meine seelische Gesundheit zu kümmern, meine Integrität zu wahren, unversehrt bleiben wollen, Grenzen haben dürfen und mich aus missbräuchlichen, manipulativen Strukturen zu befreien, aus dysfunktionalen Systemen und Beziehungen, ist kein Egoismus. Es ist Selbstschutz. Mich nicht mehr benutzen lassen wollen, ist kein Egoismus. Das ist ein natürliches, gesundes Bedürfnis. Das kranke Verhalten liegt beim anderen. Nicht bei mir. Ich will lediglich ein eigenständiges Wesen sein dürfen, das vom anderen als Wesen wahrgenommen, erkannt und respektiert wird.

Der Egoismus, der mir vorgeworfen wird, den ich mir vielleicht innerlich sogar selber vorwerfe, ihn befürchte, ist die Verteidigung meiner Wesensgrenzen, die die eigentlichen Egoisten, in dem Ansinnen mich zu benutzen, nicht sehen und wahren.

Das ist alles kein Vorwurf, keine Anklage, sondern eine Richtigstellung der Verdrehungen, die so weit verbreitet und gebräuchlich sind. Die Angst, egoistisch zu sein, andere im Stich zu lassen, hält viele herzensgute, tief empathische, weitsichtig, wohlwollende Menschen in unglaublich giftigen, missbräuchlichen Feldern.

Die Angst, ein schlechter Mensch zu sein, haben meistens die, die wahrlich keinen Grund dazu haben und viel zu viel mit sich machen lassen. Sie haben im Grunde Angst, deswegen ein schlechter Mensch zu, weil sie sich nicht mehr missbrauchen lassen wollen. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen.

Damit will ich es bewenden lassen. Es war mir ein großes Anliegen.