In besagtem Text ging es darum, alles sein lassen zu können, nichts und niemanden mehr zu verurteilen, nichts als schlecht oder schlimm zu empfinden, nichts mehr bekämpfen müssen, vermeiden, etc.
Nun kam die Frage, ob wir denn nicht auch Verantwortung anderen gegenüber hätten, wenn es zum Beispiel um emotionalen Missbrauch, Betrug, etc geht. Müssten wir da nicht die anderen warnen vor dunklen Machenschaften, vor hinterhältigen Menschen, die andere benutzen wollen, aussaugen?
Nehmen wir an, da wäre zum Beispiel ein Mensch, der vorgibt andere auf ihrem Weg zu begleiten, ein Therapeut, ein Coach, ein Mentor. Dieser Mensch neigt dazu, andere in Abhängigkeit zu versetzen, sie für seine eigenen Bedürfnisse zu beeinflussen, nur am Geld interessiert. Er lässt sich Fake-Bewertungen schreiben, braucht unbedingt den Zuspruch von anderen, nutzt die Hilflosigkeit seiner "Schützlinge" aus, nutzt seine Macht aus, seine besondere Stellung.
Vor solchen Menschen muss man doch warnen, oder? Wisst ihr was? Neulich wurde vor mir gewarnt. All das wurde mir unterstellt. Welchen Warnungen soll man denn dann nun glauben? Wer ist denn jetzt wirklich der Böse?
Jeder sieht etwas anderes als Gefahr an. Jeder fühlt sich von anderen Sachen getriggert und bedroht. Was ist denn nun wahr? Wer ist denn nun wirklich der "schlechte" Mensch? Für die, die vor mir gewarnt haben, war ich der personifizierte Teufel. Bin es wahrscheinlich noch. Und jetzt?
Für mich ist eines klar: Jeder hat ein eigenes Gefühl, eine eigene Weisheit und kann genau sagen, bei wem er sich wohlfühlt und bei wem nicht. Ich kann nur immer meiner eigenen Wahrheit folgen, meinem eigenen inneren Navigationssystem. Was für den einen nicht zuträglich ist, kann für den anderen genau passend sein.
Es wurde schon vor Robert Betz gewarnt, vor Neale Donald Walsch, vor Stefan Hiene. Und? Für mich ist ihre Arbeit von unschätzbarem Wert. Lasse ich mich von solchen Warnungen beeindrucken? Nein. Ich hab meine eigene Wahrheit, meine eigene Wahrnehmung. Ich nehme meine eigene Weisheit für wahr. Ich nehme mir das, was für mich passt, den Rest lass ich liegen.
Niemand wird in eine Abhängigkeit rutschen können, wenn es nicht eine Entsprechung in ihm gibt. Niemand wird einfach zum Opfer eines bösen Täters. Der Täter bedient lediglich meine Muster. Ich hab mich lange Zeit von meiner Mutter emotional missbraucht gefühlt und ja, ich habe diesen Missbrauch tatsächlich ERLEBT. Über so viele Jahre, so heftig, so krass. Er ist für mich wahr. Und gleichzeitig weiß ich, dass das niemals funktioniert hätte, wenn ich mich nicht für diese Erfahrung entschieden hätte.
Wir geraten nie an die falschen Menschen. Und wir haben schon gar keine Verantwortung dafür, andere vor ihren eigenen Erfahrungen zu bewahren. Wer kann denn schon sagen, ob es wirklich besser für dieses Menschenleben wäre, wenn wir Person xy nie begegnen würden? Wer will darüber urteilen, was ein Erfolg für die Seele ist, welche Erfahrung richtig und wichtig? Wer kann sagen, dass es nicht das größere Geschenk wäre, nochmal richtig Ohnmacht zu erleben, damit ich endlich aufwachen kann und mir meiner Macht bewusst werde?
Wenn ich versuche, für andere Verantwortung zu übernehmen - und ich spreche von Verantwortung für erwachsene Menschen - dann bin ich ständig in den Angelegenheiten anderer unterwegs. Ich bin gedanklich und gefühlsmäßig überall, aber nicht bei mir. Ich verlasse mich. Und vielleicht will ich mit diesem "beschützen wollen" wieder nur vermeiden, dass ich meine eigene Ohnmacht nicht fühlen muss.
Wenn ich danach schreie, dass jemandem das Handwerk gelegt werden muss, wenn ich eine höhere Instanz anrufen muss, damit endlich Gerechtigkeit herrscht, dann vor allem deswegen, weil ich mich selbst ohnmächtig in der Sache fühle. Und diese Ohnmacht brauch ich nicht fühlen, wenn jemand anders für Recht und Ordnung sorgen würde.
Als vor mir gewarnt wurde, wollten die Menschen vor allem ihre eigene Ohnmacht nicht fühlen, weil da ein Mensch in ihrem Umfeld war, der angeblich unter meinem Einfluss stand. Er war nicht mehr greifbar für sie. Sie wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten. Sie waren handlunsunfähig, überfordert, hilflos. Die logische Konsequenz? Den Menschen beseitigen, der die Gefühle hochholt, statt sich hinzusetzten und sich um denjenigen zu kümmern, der immer die Macht hat - sich selbst.
Die bereitwillige Annahme der eigenen Ohnmacht führt tatsächlich direkt in die Macht. Die Käfigtür ist immer offen.
Foto: Canva Text und Gestaltung: Anja Reiche |