Dienstag, 5. Januar 2021

Ich spreche mich frei

Da läuft gerade irgendwie dieser Prozess, ohne dass ich es schon richtig greifen kann. Es geht für mich gerade extrem darum, mich selbst zu begnadigen.

Es gibt da eine Sache für die ich mich wieder und wieder verurteile. Es gibt da einen Teil in mir, der auf keinen Fall so ein unangenehmer, anstrengender, Raum einnehmender, übergriffiger Mensch sein will, wie meine Mutter.

Ich verurteile mich daher, wenn ich selbst "zu viel" Raum einnehme. Ich verurteile mich, wenn ich mich "zu viel" einmische. Ich verurteile mich, wenn ich anderen sage, dass ich dies und das nicht möchte oder anders möchte. Ich verurteile mich, wenn ich "zu anspruchsvoll" bin. Ich verurteile mich, wenn ich weiterrede, obwohl ich merke, dass der andere gar keine Lust mehr hat zuzuhören. Auch wenn das nicht kommuniziert wurde.

Und da kommen wir genau auf den Punkt: Es sind alles nur meine Eindrücke. All das wurde mir nicht zurückgemeldet. ICH habe das Gefühl, dass es "zu viel" war. Sobald man mir gegenüber STOP sagt, kann ich das sofort akzeptieren. Das wurde aber nicht gesagt.

Manchmal wünsche ich mir sogar, dass mir andere mehr Paroli bieten würden, öfter STOP sagen würden, den Mut hätten, ihre Grenzen laut und deutlich mitzuteilen, ihre Bedürfnisse, Entscheidungen, Vorlieben. Manchmal könnte ich aus der Haut fahren, wenn ich miterlebe, dass Menschen etwas über sich ergehen lassen, ganz egal, ob ich jetzt direkt daran beteiligt bin oder nicht. Wenn ich daran beteiligt bin, umso "schlimmer".

Wenn ich so recht drüber nachdenke und -fühle, ist es sogar anstrengend für mich, mit Menschen zusammen zu sein, die nicht wirklich wissen, was sie wollen, die immer nur sagen "ist mir egal, entscheide du das". Das macht mir keinen Spaß. Ich möchte Menschen mit eigenem Willen, mit eigenem Kopf, die wissen, wer sie sind und was sie wollen. Ich mag Menschen mit Eigenarten, Ecken und Kanten. Die sind wenigstens greifbar, die haben Kontur. Die kann man "packen". Da ist jemand. Damit kann ich etwas anfangen.

Wenn ich das Ganze dann noch weiterdenke und -fühle, dann bin ich selbst nicht anstrengend mit meinen Ansprüchen und ich nehme auch nicht zu viel Raum ein. Ich nehme meinen Raum ein, wenn andere mir den ihren auch noch zur Verfügung stellen, kann ich dafür nichts. Ich habe sie nicht gebeten, mich in ihr Wohnzimmer zu lassen. Ich habe sie nicht darum gebeten, sich hinzuwerfen, wie ein Fußabtreter. Ich habe sie nicht gebeten, dass sie sich mir unterwerfen. Ganz im Gegenteil. Ich fordere jeden auf, mir auf Augenhöhe zu begegnen. Ich fordere jeden auf, auf jeden Fall zu widersprechen, wenn ich etwas sage oder tue, was für sie nicht stimmig ist.

Ich bin zu 100% jemand, der die Meinung von anderen akzeptiert und respektiert. So sie denn ausgesprochen wird. Auf Rätselraten und Vermuten, auf Fühler ausstrecken und Erahnen, was der andere wirklich will - unter dem, was er kommuniziert - hab ich keine Lust.

Das ist genau der Punkt, in dem ich mich begnadigen darf, in dem ich mich freisprechen darf. Wenn andere nicht deutlich machen, was sie wollen und wo ihre Grenzen sind, dann brauche ich mir keinen Vorwurf machen, wenn ich "drüber gehe" und das meistens auch noch "ausversehen", durch mein So-Sein, in dem ich einfach ich bin.

Ich bin manchmal laut. Ich bin manchmal grade heraus, sage, was ich denke, ohne Umschweife. Ich habe meine Ansprüche und kommuniziere sie. Ich habe genaue Vorstellungen, weiß, was ich will und was nicht. Damit stufe ich mich selbst oft als anstrengend ein, weil so viele andere halt nicht so sind. So viele wissen nicht, was sie wollen, haben keine konkreten Vorstellungen, können keine Entscheidungen treffen, haben keine Vorlieben, keine eigenen Ideen und Impulse. Sie werden gelebt, von anderen. In dem Fall auch von mir.

Deswegen bin ich kein schlechter Mensch. Da sitzt der Schmerz. Ich glaube, dass mich das anstrengend macht. Ich glaube, dass mich das zu einem unangenehmen Menschen macht. Zu einem Monster. Zu laut, zu aufdringlich, zu eigen, zu besserwisserisch, zu, zu, zu...

WOW!!!!! Was da beim Schreiben alles so zu Tage tritt. Gefühlt war das noch nicht alles. Aber auf jeden Fall kann ich mich mit all dem jetzt schon mal in den Arm nehmen.

Es besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen "ich habe eine eigene Meinung und weiß, was ich will" und "ich übergehe immer wieder das Nein von anderen und ignoriere ihre Meinung". Das tue ich nämlich nicht und das werfe ich mir vor, wenn ich meine konkrete Vorstellung habe, andere nicht und ich dann quasi "bestimme".

Ich spreche mich frei. Ich begnadige mich selbst. Ich übergehe nicht die Grenzen von anderen, ich weiß nur, was ich will.

Foto: Canva
Text und Gestaltung: Anja Reiche