Dienstag, 9. April 2019

Nur weil es mit gut geht, heißt das noch lange nicht, dass es anderen dafür schlecht gehen muss

So manche Bemerkungen und Kommentare auf meine Beiträge (bei Facebook) haben mich in letzter Zeit nicht kalt gelassen. Was mich doch sehr verwundert hat. Kommentare, die in die Richtung gingen: "Ja, du konntest deinen Weg ja nur gehen, weil dein Partner arbeiten ging." Oder "Wenn das jeder machen würde und würde sich nur um sich kümmern, dann würde ja das System zusammenbrechen. Es braucht halt auch die Vernünftigen, die eben nicht so egoistisch sind und sich nur um sich kümmern, die die Zähne zusammenbeißen und fürs Allgemeinwohl sorgen."
Normalerweise stehe ich voll über solchen Sprüchen. Mein Weltbild ist ein anderes und ich habe da eine komplett andere Einstellung. Gleichzeitig durfte ich feststellen, dass da eine Wut hochkam. Etwas hat mich total genervt und ich konnte es nicht richtig greifen. Also bin ich tauchen gegangen. Tiefseelentauchen bei mir selbst. Wie so oft.

Was ich dann gefunden habe, war so unterschwellig, so subtil, so schwer zu erkennen und gleichzeitig so simpel und logisch, dass ich es unbedingt erzählen will. Ich glaube nämlich, dass ganz viele ähnliche Altlasten haben.

Ich habe Schuldgefühle gefunden - uralt, mit der Muttermilch eingesogen. Schuldgefühle, die so überflüssig sind und die mich echt wütend gemacht haben. Es waren nämlich Schuldgefühle, die mir eingeredet wurden von Kindesbeinen an. Manchmal tatsächlich ausgesprochen, immer aber zumindest unterschwellig vorhanden.

Meine Eltern haben sich für ihre Kinder krumm gemacht. Wir sollten es mal besser haben als sie. Sie haben sich alles vom Mund abgespart, damit wir gut versorgt sind. Sie haben geackert und geschuftet, waren eigentlich nie wirklich "da", immer im Tun, immer beschäftigt, hatten keine Zeit für Zwischenmenschliches, Nähe, Zuhören. Arbeiten war angesagt und das alles nur "für die Kinder". Das heißt die Botschaft, die da mitschwang war: Damit du es gut haben kannst, müssen wir leiden.

Da wurde eine Schuld zugewiesen. Latent. Da schwang was mit. Kinder haben Augen im Kopf und ganz viel Feingefühl. Klar, es war sooo gut gemeint und dennoch ist es für die Kinder eine Last, die sie nie wollten. Ich wollte nicht, dass meine Eltern für mich leiden. Ich wollte nicht, dass sie sich krumm machen, verbiegen, sich verbieten, Freude zu haben, es leicht zu haben, nur weil sie uns materiell versorgen wollten. So viel mehr hätten wir Kinder davon gehabt, wenn die Eltern gut für sich gesorgt hätten und nicht nur gut für uns. Was für ein Vorbild! 🙈

Kein Kind, kein Mensch will es wirklich, dass es anderen schlecht geht, damit es ihm gut gehen kann. Und diese Schuld ist in so vielen von uns gespeichert. Wie viele haben den Satz gehört: "Dir soll es mal besser gehen." Eigentlich wollten uns die Eltern das Leben erleichtern. Tatsächlich haben sie uns eine Last mitgegeben. Dieses grundsätzlich schlechte Gewissen. Diese Grundannahme, dass es automatisch anderen schlecht gehen muss, wenn es einem selbst gut geht. Manche erlauben sich daher schon gar nicht, dass es ihnen gut gehen darf, weil es dann auch keinem anderen schlecht gehen muss.

Deswegen haben mich diese Kommentare so getriggert. Da wurde meine alte Schuld angetickt. Nur weil ich es mir so gut gehen lasse, leiden andere für mich. Mir könnte es nicht so gut gehen, wenn andere nicht in den sauren Apfel beißen würden.

Was für ein Blödsinn und ich bin wirklich froh, dass ich diesem Blödsinn auf den Grund gegangen bin. Nun kann ich meinem kleinen inneren Mädchen endlich sagen, dass das eine ganz große Lüge ist und dass es ihr gut gehen darf, dass andere eben nicht dafür oder deswegen leiden müssen.

Wir sind nicht schuld, wenn andere sich für das Aufopfern entscheiden. Mit dieser Entscheidung haben wir nichts zu tun. Das ist das eine. Das andere ist, dass Hilfe annehmen, nicht automatisch bedeutet, dass diese Hilfe dem Helfenden weh tut. Es gibt auch positive Unterstützung aus der Liebe heraus. Die dürfen wir gerne annehmen.

Uns kann es allen gut gehen. Allen auf einmal. Niemand hat aus der Leichtigkeit und Freude des anderen einen Nachteil. Ganz im Gegenteil sogar. Aus der Leichtigkeit und Freude jedes einzelnen hat die Welt ganz viel. Wenn jeder gut für sich sorgt, sind alle gut versorgt.

Foto: Canva
Text und Gestaltung: Anja Reiche