Durch Vergebung entsteht Frieden? Wirklich?
Wenn diese Vergebung meint, dass ich anderen ihre Untaten verzeihen soll und dabei meine eigenen Gefühle, den eigenen Schmerz wegdrücken muss, mich also vergesse, ist es keine Vergebung, sondern ein „scheinheiliger“ Akt auf meine Kosten. Damit ist niemandem gedient.
Wenn diese Vergebung Frieden bringen soll, also eine Absicht hat, gehe ich gegen etwas vor, was stattdessen da ist, nämlich offensichtlich Unfrieden. Sonst müsste ich nicht in den Frieden kommen wollen. Es gilt aber, mich genau dem Unfrieden in mir zuzuwenden. Den Anteilen, die zürnen, die zu Recht wütend sind, weil sie Unrecht erfahren haben. Die noch offene Wunden haben, nicht abgeschlossene, traumatische Erfahrungen. Diese Anteile brauchen mich. Der „Täter“ braucht meine Vergebung nicht. Schon gar nicht, wenn bei ihm kein Einsehen, keine Bewusstwerdung und kein Erkennen stattfindet und das übergriffige, Grenzen verletzende oder missbräuchliche Verhalten weitergeht.
ICH brauch mich. Ganz und gar. In der Selbstbegleitung. Im Mitgefühl. Im Verständnis für mich und mein Erleben. Niemand sonst braucht mich.
Wenn ich ganz in meinen Schuhen stand und alles gefühlt habe, was eine Erfahrung, eine Untat von anderen mit mir gemacht hat, wenn alle inneren Kinder gesehen und versorgt sind, dann brauch ich keine Vergebung mehr. Dann war es wie es war. Die Tat bleibt die Tat, aber ich bin emotional frei und es kann etwas sein, was in der Vergangenheit war und auch wirklich da bleibt. Es ist dann nicht mehr in der Gegenwart in mir lebendig und aktiv. Dann ist da wirklicher, echter, tiefer Frieden.
Dann ist da kein Urteil über den anderen, keine Schuldzuweisung, kein Vorwurf, aber auch kein Gutheißen oder Drüberwegsehen. Es ist gesehen als das, was es war. Es wurde hingeschaut. Es ist benannt. Es ist gefühlt. Es ist gewesen.
Vergebung ist obsolet, wenn ich mich tatsächlich um mich gekümmert habe.