So viele, inklusive mir, wurden darauf getrimmt.
"Du bist krank? Du musst sofort Medikamente nehmen, sonst wird es nur noch schlimmer."
"Wenn es dir mit 40 körperlich schon so schlecht geht, wie soll es dann erst mit 80 sein?"
"Was, das Geld wird weniger auf dem Konto? Wenn das so weitergeht, bin ich in einem Monat pleite."
"Oh Gott, ich bin jetzt schon seit Tagen antriebslos. Wenn sich das nicht bald ändert, dann rutsche ich bestimmt in eine Depression."
"Mann, ich kann nicht einschlafen. Wenn ich jetzt nicht bald schlafen kann, dann bin ich morgen den ganzen Tag hundemüde."
Uns wurde eingetrichert, dass wir die Dinge nicht ihrem Lauf überlassen können, schon gar nicht, wenn es sich um etwas handelt, dass wir nicht so gerne haben. Wir müssen sofort was dagegen tun. Wir müssen dem Einhalt gebieten. Wehret den Anfängen, wie der Deutsche so gerne sagt. Lass das bloß nicht einreißen.
Wenn wir uns einfach dem Leben überlassen, dann nimmt es ein schlimmes Ende. Geht ja gar nicht anders. Wenn da ein Symptom ist, dann müssen wir was tun, damit es weggeht. Wenn es Phasen gibt, in denen der Kontostand sinkt, müssen wir was tun, damit das wieder anders wird. Das können wir doch nicht einfach so sein lassen. Und im Kopf malen wir uns fleißig alle schrecklichen Folgen aus.
Das Ganze resultiert aus einem Denkfehler. Wir schreiben die Geschichte in Gedanken fort. Wenn wir uns das Symptom oder den Kontostand als eine Grafik vorstellen, eine Kurve, dann gehen wir davon aus, dass die Kurve weiterhin nach unten geht, wenn wir nicht eingreifen. Schließlich spricht die Tendenz ja dafür, dass der Verlauf so sein wird. Gestern war es ja auch schon so.
Was, wenn das aber so nicht stimmt? Was, wenn es nicht mehr ist, als eine Momentaufnahme? Ja, hier und heute, ist da ein Symptom. Wer sagt, dass das morgen immer noch da sein muss, nur weil es gestern auch schon da war? Wer sagt, dass der Kontostand morgen weiter nach unten geht, nur weil er das gestern getan hat? Hier, jetzt, in diesem Moment, ist Stand x. Lasse ich die Vergangenheit, das Gestern und meine bisherigen Erfahrungen außen vor und nehme nur HEUTE, dieses JETZT, dann ist da einfach ein gewisser Umstand, Zustand. Der kann im nächsten Moment wieder ganz anders sein. Wieso sollte ich mit meinem Erbsenverstand wissen, was das Universum morgen leistet?
Ach ja, da war ja was. Wenn wir zu optimistisch an die Sache rangehen, dann sind wir blauäugig und naiv. Wenn wir positive Prognosen abgeben, dann wird sofort gefragt, wie das denn bitteschön gehen soll. Merkt ihr was? Finde den Fehler.
Wenn ich ganz neutral das wahrnehme, was JETZT gerade da ist und mir keine Geschichte dazu erzähle, wie gruselig das weitergehen wird, dann gibt es keinen Grund für Drama und Sorge. Ja, die Dinge sind gerade so. Das ist in Ordnung. Es sagt allerdings überhaupt nichts darüber aus, wie sie morgen sein werden.
Vor allem darf uns wieder klar werden, dass die Dinge stetig im Wandel sind. Alles bewegt sich in Wellen. Auf und ab. Nichts bleibt für die Ewigkeit und keine Welle geht nur nach unten. In diesem einen JETZT darf einfach alles so sein, wie es gerade ist. Frei von Prognosen. Wir dürfen aufhören, uns seltsame Geschichten über die Zukunft zu erzählen. Schon gar nicht mit dem Verstand.
In diesem einen JETZT ist unsere Welt meistens ins Ordnung. JETZT gerade sitze ich am PC. Ich habe ein Dach über dem Kopf. Es ist warm. Der Kühlschrank ist voll. Diese Worte wollen jetzt getippt werden. Der Kontostand ist völlig unwichtig. Gerade JETZT geht es meinem Körper gut. Gerade jetzt hier in diesem Moment ist ALLES in Ordnung.
Foto: Canva Text und Gestaltung: Anja Reiche |