Samstag, 28. August 2021

Es ist in Ordnung, feige zu sein

Es ist okay, Angst zu haben und sich dadurch von etwas abhalten zu lassen. Es ist in Ordnung, feige zu sein, zu kneifen, sich doch nicht zu trauen, sich selbst nicht zu trauen, sich zu verstecken. Es ist okay, nicht für sich einzustehen und sich erpressen zu lassen. Es ist okay, nicht für andere einzustehen. Manchmal kann man es ja eben nicht einmal für sich selbst. Manchmal ist eben die Angst stärker als alles andere. Daran ist nichts falsch.

Wir sind nicht erst dann richtig, wenn wir immer mutig sind und uns unseren heftigsten Gefühlen und größten Dämonen stellen, lautstark überall unsere Meinung sagen, damit sichtbar sind und natürlich irgendwie angreifbar. Es ist nicht unsere Pflicht, immer stark zu sein und im Wind zu stehen, an der Front.

Ich hab ja gestern über Schuld geschrieben. Und natürlich kam der Aspekt, dass man sich schuldig macht, wenn man den Mund hält und mitläuft, wenn man zusieht und nichts tut. Deswegen gibt es heute diesen Text von mir. Himmel! Was für ein Gedankenmonster!!! Da ist jemand, der hat einfach nur Schiss, der hat eigenes Trauma, der traut sich nicht, die Stimme zu erheben und den (gefühlten) Tod zu riskieren, um für sich oder andere einzustehen. Ist das nicht einfach nur menschlich? Da hat jemand Angst und ich mach ihn dann auch noch fertig, warum er mir nicht zur Seite steht? Echt jetzt?

Da ist mal wieder die Idee, dass ich andere brauche, um mein Leben und meine Freiheit zu leben. Das ist für mich wieder eine Scheinabhängigkeit von anderen. Das ist aus meiner Sicht wieder keine Eigenverantwortung, sondern ein Brauchen, eine Bedürftigkeit. Die anderen müssten, damit ich... Krasses Pferd. Und dann werfen wir auch noch die Schuld in den Ring, um das schlechte Gewissen noch mehr zu füttern. Derjenige, der Angst hat, hat damit meistens schon genug zu tun, da braucht er die Schuldgefühle nicht auch noch.

Gerade habe ich bei einer ganz wundervollen Frau den Satz gelesen: "Empathie gibt es nicht im App-Store". Da ist was dran.

Natürlich kann ich auch die verstehen, die völlig verzweifeln und auf die scheinbar feigen Menschen schimpfen. Sie sind ja auch nur in ihrer eigenen Ohnmacht unterwegs und glauben, es alleine nicht zu schaffen. Trauma auf beiden Seiten. Für beide Seiten hab ich tiefstes Verständnis und Mitgefühl. Gleichzeitig geht es mir in diesem Post gerade um die, die sich nicht trauen.

Ich muss nicht immer mutig sein. Ich muss mich nicht immer allem stellen. Ich darf mir ausweichen. Ich mache es immer so gut wie ich kann und jede Empfindung, die ich habe, darf sein. Wenn ich mich etwas nicht traue, lieber den Mund halte, aus Angst angegriffen zu werden, dann hat das seine Berechtigung. Fertig. Ich fühle, was ich fühle. Ich kann, was ich kann. Ich kann nicht, was ich nicht kann. Ich bin in jedem Moment genug und damit richtig.

Ich kann mich an nichts schuldig machen. An gar nichts. Es gibt Aktion und Reaktion. Es gibt Ursache und Wirkung. Es gibt Handlung und Konsequenzen. Mehr nicht. Dessen bin ich mir bewusst und damit kann ich sehr gut leben. Mit jeder Konsequenz, die mein Handeln oder Nichthandeln nach sich ziehen, kann ich leben. Auch mit meiner Feigheit kann ich leben. Sehr gut sogar.

Und du? Darfst du feige sein? Dürfen andere feige sein? Was macht es mit dir, wenn du dir und anderen Feigheit erlaubst?


Foto: Canva
Text und Gestaltung: Anja Reiche