Samstag, 31. Juli 2021

Wir müssen niemanden retten

Spürt ihr auch diese krasse Erschöpfung im Kollektiv? Ich weiß nicht, wie oft ich es in den letzten Monaten gehört habe, dass Menschen sich schlicht danach sehnen, einfach in Ruhe gelassen zu werden, ihre Ruhe haben zu wollen, sein zu dürfen, ihr Leben zu leben.

Auf meinem eigenen Heilungsweg war dieses "einfach in Ruhe gelassen werden wollen" immer wieder Thema. Müssen müssen, das tief in den Zellen abgespeichert war. Kürzlich kam zum persönlichen Aspekt aus meinem ganz eigenen Erleben in diesem und anderen Leben auch noch der Ahnenaspekt dazu - die Überforderung und Überreizung meiner Oma, die ich ebenfalls mitfühlen kann, "mittrage" und erlöse.

Andere wollen immer was. Andere entscheiden über mein Leben. Andere erwarten von mir. Andere reden ständig auf mich ein. Keine eigenen Grenzen haben dürfen. Keine eigenen Bedürfnisse und Gefühle haben dürfen. Keinen Raum haben dürfen. Immer wieder das innere Bild von mir selbst, wie ich mir Augen und Ohren zu halte, den Kopf einziehe, mich verkrieche, strample und trete, alles von mir stoße und mich einfach nur verstecken will. So weit weg wie möglich von äußeren Reizen. Tief in eine Höhle, nichts hören und sehen von der Welt. Mich ausruhen wollen, sein können, nichts machen müssen, GAR NICHTS. Atmen. Sein.

Nicht in Ruhe gelassen zu werden, immer wieder gestört und behelligt zu werden, sind ganz simple Foltermethoden, die sehr schnell in den Wahnsinn treiben, mürbe machen, die Menschen gefügig machen. Es soll einfach nur aufhören. Menschen nicht schlafen lassen, sie ständig mit Geräuschen beschallen, denen sie sich nicht entziehen können, körperliche Reize setzen, wie ständige Wassertropfen auf den Kopf. Es braucht noch nicht mal wirkliche körperliche Gewalt, die psychische Gewalt reicht völlig aus. Sich immerzu ändernde Regeln, Ungewissheit, Willkür, Drohungen.

Nun müssen wir aber nicht Gefangene in einem Kerker sein, weggesperrt und dem Ganzen ausgesetzt. So was kann auch, wie wir sehr gut sehen können, in scheinbarer Freiheit erlebt werden.

Der Clou ist allerdings, dass wir eigentlich den ganzen Folterkram in uns selbst tragen und unser eigener Folterknecht sind. Wir kasteien uns durch inneren Lärm, durch die Belästigung durch eigene Gedanken, durch empfundenen Leistungsdruck, durch Opferbewusstsein, dem Irrglauben, dass da immer eine Macht über uns steht und wenn diese Macht der innere Antreiber ist. Machen müssen, retten müssen, liefern müssen, leisten müssen.

Einer der fiesesten und subtilsten Antreiber und Folterer ist allerdings der innere Gutmensch, der Retter, der Heilige, der Märtyrer und der wirkt natürlich am besten bei den Heilern, Schamanen und Lichtarbeitern dieser Zeit.

Ja, wir haben die Fähigkeiten, die Feinfühligkeit, das alte Wissen. Ja, wir wissen wie Transformation funktioniert. Wir können den Raum halten, Menschen in ihren heftigsten Gefühlen begleiten. Wir sehen rosa Elefanten im Raum stehen, riechen innere Blockaden, Ausreden und Ungereimtheiten fünf Kilometer gegen den Wind. Wir können aufklären, erklären, zuhören, in der Heilung begleiten, Trauma erlösen.

Wir KÖNNEN. Wir MÜSSEN aber nicht. Wir dürfen NEIN sagen und machen uns nicht schuldig. Wir müssen uns nicht übergehen und aufopfern, weil uns vielleicht unsere Gaben und Talente dazu verpflichten. Es ist keine unterlassene Hilfeleistung, wenn wir Menschen ihren Weg gehen lassen, auch wenn wir sehen, dass mit mancher Entscheidung vielleicht unangenehme Erfahrungen auf sie warten. Sie dürfen diese Erfahrung machen und wir dürfen unsere Gefühle fühlen, wenn wir aufhören zu retten.

Ungefragt helfen ist aus meiner Sicht übergriffig. Das ist uns vielleicht allen klar. Das kann ich sehr gut lassen. Nach Hilfe gefragt zu werden, sie eigentlich leisten zu können, rein von den Fähigkeiten her, und dann Nein zu sagen, weil ich mich gerade selbst brauche, ist eine ganz andere Nummer. So schnell kommen die inneren Vorwürfe, dass man den anderen im Stich lässt, dass man egoistisch ist, dass man dann schuld ist, wenn dem anderen etwas "Blödes" passiert.

Ich bin aber nicht der Retter der Nation. Und du bist es auch nicht. Wir dürfen auf unsere Impulse hören, auch und gerade, wenn es um Hilfe für andere geht. Ich muss bei mir sein, im Einklang mit meinem Innersten. Ich muss da sein, wo das Leben mich gerade braucht, wo ich der größte Nutzen bin und wenn das bedeutet, dass ich mich erholen muss, mich um mich kümmere, meine Gefühle fühle, auch wenn um mich die Hölle losbricht und andere meinen, ich müsste da jetzt aber mit anpacken.

Zur falschen Zeit am falschen Ort aus falschen Beweggründen bin ich kein Gewinn für das Leben, für die Menschen, für mich.

Ich darf mich noch mehr hineinentspannen in meine Intuition, gerade bei dem Thema. Ich feier einen jeden, der aus tiefstem Herzen Nein sagen kann und damit Ja zu sich selbst, auch wenn vielleicht ich diejenige bin, die dieses Nein "kassiert". Das ist ehrlich, das ist aufrichtig und ich weiß, dass der andere gut für sich sorgt. Mein Leben geht weiter, auch ohne diese Hilfe. Dann kommt eben Hilfe und Unterstützung von anderer Stelle, so sie denn wirklich "nötig" ist. Das Universum kennt keine Begrenzung der Möglichkeiten und mein Leben ist niemals von einer einzigen Person abhängig.

Wenn nicht das passiert, was wir gerne hätten, passiert das, was besser für uns ist. Niemand ist schuld an dem, was in meinem Leben passiert. Ich bin nicht schuld an dem, was im Leben der anderen passiert. Schuld gibt es in meinem Weltbild nicht.

Es ist ein regelrechter Sport geworden, sich zu übergehen, um andere zu retten. Wenn jeder sich selbst rettet, dann müssen es die anderen nicht tun und keiner muss sich mehr für den anderen aufopfern.

Stell dir vor, du darfst sofort aufhören, zu retten und darfst jeden sich selbst, dem Leben und seiner höheren Führung überlassen. Du darfst jeden mit dem sein lassen, was da gerade in seinem Leben ist und musst es nicht ändern. Du gestehst jedem seine Erfahrungen zu. Du traust jedem seine eigene Wahrnehmung zu und dass das, was er tut oder nicht tut, für ihn richtig ist. Stell dir vor, seine und deine Impulse sind immer richtig. Wie fühlt sich das an?

Wenn du wirklich helfen sollst, willst und kannst, dann wird es sich leicht anfühlen. Wenn du aber das Gefühl hast, helfen zu müssen, aus einer Ideologie heraus, aus alten Überzeugungen, aus Schuld, dann wird es schwer. Dein Innerstes weiß immer, was wann der Fall ist. Wo sollst du JETZT wirklich sein? Was sollst du JETZT wirklich tun? Und wie fühlt es sich an, das Retten zu lassen?



Design: Canva
Text: Anja Reiche