Emotionale Reife ist keine Neigung, kein Hobby, kein Interesse, das man eben hat oder nicht. Ob man emotionale Reife erlangen kann und wie gut, ist auch nicht vom Geschlecht abhängig. Sie ist eine logische Folge vom tatsächlichen Erwachsenwerden.
Ein echtes Gegenüber sein, seine Innenwelten kennen, Gefühle wahrnehmen und im Miteinander benennen können, anderen zuhören und sie erfassen können, weil man sich selbst erfasst hat, etwas aufgreifen können, auf den anderen eingehen können, ihn tatsächlich hören und sehen, begreifen und nachempfinden können, Mitgefühl, Regungen und Stimmungen des anderen registrieren und mit einbeziehen, sprechen und gleichzeitig fühlen können, denken in Ursache und Wirkung, Weitsicht, Achtsamkeit, authentische Interaktion, Erlebtes in Bezug zu sich setzen können, Bedürfnisse wahrnehmen, sie ausdrücken können und ob der Umstände priorisieren können...
Das alles ist ein schlichtes Zeugnis von emotionaler Reife. Das alles kann ein natürlich erwachsen gewordener Mensch unabhängig vom Geschlecht. Das alles zu wollen ist nicht zu viel verlangt. Das wäre unser aller Natur, wenn wir sie denn ungestört hätten entfalten können. Das alles können sowohl Männer wie Frauen. Das alles entsteht nicht nur, wenn man Psychologie als Hobby hat.
Ich hab mich so lange, so unfassbar lange dafür falsch gemacht, wenn mir DAS in Begegnung gefehlt hat. Ich hab mich so lange abspeisen lassen mit "für mich ist das nichts", "ich kann das nicht", "Männer sind anders", "das wurde dir in die Wiege gelegt, ich hab das nicht", "du bist halt hochsensibel", "das interessiert mich alles nicht", "das brauche ich nicht", "das ist mir zu anstrengend", usw.
Heute morgen war da eine Wut, eine unfassbare Wut, als mir so richtig, richtig deutlich geworden ist, dass ich immer recht hatte, dass es wahr ist, dass da was Grundsätzliches fehlte, was da eigentlich sein müsste und dass es weder zu viel verlangt ist, noch ich zu hohe Ansprüche habe. Ich wollte einfach nur einen echten Erwachsenen, Geschlecht egal. Ich hab schlicht einen reifen Menschen vermisst. Und jede der Aussagen im vorherigen Absatz sagt eigentlich: Ich weigere mich, erwachsen zu werden.
Dieses Erkennen tut auf der einen Seite total gut, weil da endlich Klarheit ist. Gleichzeitig ist es schmerzhaft, weil ich die Verzweiflung der Kindheit nochmal krasser begreife, weil ich Krieg gegen mich selbst führen musste, mich jahrzehntelang runterregulieren, weil etwas nicht da war, was eigentlich naturgegeben wäre. Da ist Fassungslosigkeit. Ich erinnere mich an so viele Situationen, in denen ich zurecht "unzufrieden" war und keine Worte dafür hatte, versuchte mir das irgendwie schön zu reden, den Fehler bei mir zu suchen, hab mich für meine Unzufriedenheit verurteilt.
Natürlich ist mir klar, dass niemand etwas für Trauma und die daraus resultierende unvollständige emotionale Entwicklung kann. Versteh ich alles, aber sowas von. Ich komm da her. Und gerade jetzt mag ich ganz und gar in meinen Schuhen stehen und fühlen und erfassen, was das für MICH bedeutet hat und manchmal immer noch bedeutet.
Alter Schwede! Manchmal erschreckt es mich, wenn dann doch wieder ein X auftaucht, das ich mir für ein U hab verkaufen lassen.