Sonntag, 2. Mai 2021

Wenn eine andere Meinung eine Bedrohung ist

Ihr wisst, ich beobachte viel und sehr aufmerksam. Dieses Phänomen kommt mir immer wieder unter. Dass jemand eine andere Meinung hat, ist für viele schon das Problem an sich und sie fangen an, wie wild um sich zu beißen. Sie fühlen sich bedroht von dieser anderen Meinung. Diese andere Meinung muss weg, weil dadurch Gefahr in Verzug ist. Aber welche Gefahr ist das?

Die meisten von uns haben als Kind die Erfahrung gemacht, dass unser NEIN nicht akzeptiert wird, nichts zählt. Da gab es die Eltern und andere Bezugspersonen, wie Lehrer, Onkel, Tanten, ältere Geschwister, Ärzte, Pfarrer, etc, die hatten irgendwie immer "rechter" als wir, weil sie einfach am längeren Hebel saßen und über uns bestimmen konnten, über uns hinweg bestimmen konnten. Wir hatten keine Chance. Auch wenn wir unsere - oft anders lautende - Meinung kundgetan haben, so waren wir doch auf verlorenem Posten.

Diese Erfahrungen prägen und irgendwann haben wir dann noch nicht mal mehr unsere Meinung geäußert, weil es ja doch keinen Sinn hatte. Da wird vorsichtig ein Thema angeschnitten. Ich deute an, was ich so eventuell, ansatzweise anders sehe. Dann kommt die Keule von Mama, Papa, etc und ich versuche es gar nicht weiter mich durchzusetzen.

Dann sage ich meine Meinung gar nicht mehr. Hat ja eh keinen Sinn. Ich ziehe mich in mich zurück und werde still. Ich habe gelernt, dass die anderen Meinungen immer mehr zählen als meine. Aufgegeben.

Irgendwann bin ich dann erwachsen. Diese Erfahrung ist tief in mir verankert. Sobald jemand eine andere Meinung hat, als ich, gebe ich mich schon geschlagen, unterwerfe mich, obwohl ich noch nicht im Ansatz meine Meinung laut geäußert habe und noch keinen Versuch unternommen habe, mich gegen irgendwas zur Wehr zu setzen bzw. meine Meinung durchzusetzen und für mich einzustehen. Ich fang gar nicht erst an, schimpfe aber auf die, die eine andere Meinung haben. Die müssen weg. Die sind ja mein Problem. Wenn es die nicht gäbe, dann könnte ich das leben, was ich eigentlich will. Finde den Fehler.

Da fehlen einige Schritte vorher, bevor ich wirklich sagen kann, ich wurde untergebuttert. Wir lassen uns nicht nur die Butter vom Brot nehmen, wir werfen die Butter den anderen gleich freiwillig hin. (Danke Maja Siebel, mal wieder, für dieses geile Butterbrot-Bild!!!)

Wie viele sind da im Moment, die sich unterdrückt fühlen, die sich genötigt fühlen, etwas zu tun, obwohl sie nicht ein einziges Mal laut ihr NEIN geäußert haben, ihren Standpunkt klar gemacht haben. Sie fangen gar nicht erst an. Haben schon aufgegeben, weil der Chef, der Partner, der Arzt, die Regierung eine andere Meinung haben als sie.

Nun gibt es natürlich auch ganz viele, die ihre Meinung schon geäußert haben, sie aber keinen Anklang findet und nicht akzeptiert wird, z. B. vom Chef. Dann sind da zwei unterschiedliche Standpunkte, die nicht zusammenpassen. So weit so gut. Aber wo kommt der Schluss her, dass der Angestellte dann derjenige sein muss, der nachgeben muss? Ich als Angestellter kann mich umdrehen und gehen. Ich muss das nicht mit mir machen lassen.

Wenn ich bleibe, muss eins klar sein: Ich willige ein, dass der andere über mich hinweg gehen darf. ICH lasse es zu. ICH lasse es geschehen. ICH bin derjenige, der bleibt. Das ist mein Einverständnis zur Unterdrückung. Das ist meine Willensbekundung. Und ich brauche mich nicht wundern, wenn der Chef - um in diesem Beispiel zu bleiben - munter damit weitermacht, mich zu übergehen. Ist doch praktisch für ihn.

Es gibt nicht nur die bösen Täter. Es braucht willige Opfer und gerade, wenn es um Erwachsene, mündige Menschen geht, dann kann ich aus eigener Erfahrung nur sagen, dass das "Opfer" sehr wohl Macht hat. Es gibt immer eine Handlungsmöglichkeit. Wer meine Würde nicht zu achten weiß, hat nicht verdient, dass ich Zeit mit ihm verbringe. Ja, ich weiß nicht direkt, wie es stattdessen weitergehen soll. Meine Erfahrung zeigt allerdings, dass sich Tür und Tor öffnet, wenn ich radikal zu mir stehe und genau über diese Hürde des Nichtwissens drüber hinweg gehe. Diese eine Hürde und dann öffnen sich die Schleusen der Möglichkeiten.

Die Frage ist tatsächlich, achtest du deine Würde? Achtest du selbst dein NEIN? Oder bist du eigentlich schon der Täter in dir selbst, richtest dich selbst, knechtest dich selbst und prügelst dir dein NEIN selbst aus?

Das Kind in uns darf daran erinnert werden, dass es sein NEIN äußern darf und dass es Gewicht hat, dass dieses NEIN gehört wird. Der Erwachsene, der wir sind, ist jetzt dafür verantwortlich, dass jedes NEIN von all unseren verletzten, unterdrückten Kindern akzeptiert wird. WIR sind diejenigen, die für unsere Grenzen verantwortlich sind. WIR dürfen sie erstmal selbst wahren, bevor wir erwarten können, dass es jemand anders tut.

Über meine Grenzen geht niemand mehr drüber. So wahr ich hier stehe. Sie sind nicht verhandelbar. Ich bin mir dessen bewusst, was ich für ein mächtiges, geistiges, schöpferisches Wesen bin. Man mag meinen Körper auslöschen können, aber nicht mein Bewusstsein. Ich bin unauslöschlich und bevor ich etwas akzeptiere, mit dem ich Krieg gegen mich selbst führe, riskiere ich lieber alles andere. Ich bin bereit jegliche Konsequenz zu tragen, die es nach zieht, ich selbst zu sein. Ich stehe hier und bin die erste, die mein eigenes NEIN und damit das JA zu mir vollumfänglich akzeptiert. Deshalb bedroht mich auch eine andere Meinung nicht. Was soll sie mir tun? Meinen Weg gibt es immer. Ich stehe zu mir selbst. Klarheit ist Schöpferkraft pur.


Foto: Canva
Text und Gestaltung: Anja Reiche