Dienstag, 17. November 2020

Die Heiligkeit der Trennung

Wir leben in Zeiten, in denen Spaltung deutlicher denn je zu sehen ist. So viele rufen nach Verbundenheit, nach Einheit, nach Zusammenschluss. Ich kann das nachvollziehen und gleichzeitig möchte ich auf die Heiligkeit der Trennung aufmerksam machen.

Wenn ich nicht mit den richtigen Menschen in Verbindung bin, dann kann das meinen inneren Tod bedeuten. Nicht in jedem Umfeld, in jeder Verbindung kann ich mich entfalten und die sein, die ich bin. Das heißt, ich darf sehr weise wählen mit wem oder was ich mich verbinden möchte. Denn nicht jeder tut mir gut.

Verbindung nur um der Verbindung Willen, weil es vielleicht als christlicher oder erleuchteter oder spiritueller gilt, als eine Trennung, ist wie ein totes Pferd reiten. Das bringt niemanden weiter. Das ist aus meiner Sicht sogar scheinheilig, weil ich nicht meine Wahrheit lebe.

Es gibt den Moment, da ist eine Beziehung erfüllt. (Danke Christiane für diesen genialen Satz!!!!) Da ist es Zeit zu gehen. Da ist alles getan, für das man sich verabredet hatte und man kann getrost auseinander gehen. Damit meine ich nicht nur Partnerschaften. Ich meine damit Beziehungen aller Art. Ob Familie, Freunde, das berufliche Umfeld. Egal wo Menschen zusammen sind und wirken, kann der Zeitpunkt kommen, zu dem es besser ist, zu gehen, anstatt eine Verbindung künstlich am Leben zu erhalten.

Denn würde ich bleiben, könnte ich meine Essenz nicht mehr zum Ausdruck bringen. Würde ich in Verbindung bleiben, könnte ich mich nicht weiter entfalten und wachsen. Würde ich bleiben, wäre das eher destruktiv statt konstruktiv. Würde ich bleiben, wäre das hinderlich und ich könnte mich nicht mehr frei verströmen.

Ich wäre in meinem Sein gehemmt, gebremst und es könnte nicht mehr das durch mich in die Welt fließen, was in die Welt will. Mein Wirken wäre verwässert, nicht mehr klar und scharf umrissen. Ich würde in der grauen Masse verschwimmen. Ich stünde dem Leben in meiner Wahrhaftigkeit nicht mehr zur Verfügung. Da käme nicht mehr das Beste in mir zum Ausdruck, weil ich nicht in Harmonie lebe, in der Schwingung, die mir eigentlich mehr entsprechen würde, die ich BIN. Ich bin in der falschen Frequenz unterwegs und das erzeugt schiefe Töne.

Was wäre denn, wenn wir die "Spaltung" und Trennung nicht mehr verurteilen würden, sondern als eine natürliche Selektion betrachten würden? Das, was nicht mehr zusammengehört, trennt sich.

Ja, wir sind eine Menschheitsfamilie. Ja, wir sind alle göttliche Wesen. Und gleichzeitig muss und kann ich nicht jeden mögen und mit jedem gerne Zeit verbringen. Wir dürfen uns in unserer Andersartigkeit sein lassen, den anderen sein lassen, den, den ich nicht riechen kann. Er darf so sein. Und ich darf so sein. Und wir müssen uns nicht einigen. Wir dürfen uns zweinigen, wie Vera F. Birkenbihl so schön sagte.

Soll sich doch jeder mit dem zusammenschließen, der gerade zuträglich und stimmig ist. Soll doch jeder in seiner Herde leben. Es gibt immer die Menschen, die mich genau so nehmen können, wie ich bin. Die ich genauso nehmen kann wie sie sind. Und der, den ich nicht riechen kann, der wird auch seine Herde finden. Diese zwei Herden müssen sich nicht lieben. Sie müssen sich nur einfach sein lassen. Leben und leben lassen.

Meine Wahrheit ist, dass wir alle nebeneinander, parallel hier existieren können. Ich bin der Meinung, dass es möglich ist, dass jeder er selbst sein kann und sich ausdrücken kann, ohne einen anderen in seiner Entfaltung zu beschränken.

Wenn wir zulassen, dass sich alles in die göttliche Ordnung fügt und jeder den Platz einnehmen kann, wo er eigentlich richtig ist, wo er hingehört, dann stört niemand einen anderen. Dann ist da Harmonie. Jeder spielt seinen Ton. Und diese Plätze sind nicht fest. Das Leben ist Veränderung. Es fließt. Die Herden können wechseln. Die Töne und Plätze können wechseln. Nichts ist für die Ewigkeit.

Dazu gehört allerdings Trennung, denn viele waren noch nie an ihrem Platz, einige sind nicht mehr an ihrem Platz, in der "richtigen" Beziehung, sind nicht im "richtigen" Job, sind nicht in der "richtigen" Familie, bei den "richtigen" Freunden. Mitfließen und Neusortieren beinhaltet immer die Trennung.

Trennung ist kein Versagen. Trennung ist normal. Trennung ist Teil des Lebens. Trennung ist Teil der Natur. Der Baum lässt seine Blätter weise fallen, weil er sterben würde, wenn er sie behalten würde. Er käme nicht über den Winter. Trennung ist nicht der Tod. Trennung ermöglicht manchmal erst richtige Lebendigkeit. Trennung ist ein heiliger, weiser Akt und in keinster Weise schlechter als Verbindung. Eine wahrhafte Trennung sorgt sogar erst dafür, dass ich in Verbindung sein kann. Nämlich in Verbindung mit mir selbst. In dem Sinne führt Trennung zur Verbindung. Sie führt mich zurück zu mir. 

Foto: Canva
Text und Gestaltung: Anja Reiche