Montag, 24. August 2020

Mitleid(en) ist falsche Solidarität

Und wieder hat der Prozess eine neue Stufe erreicht. Nun geht es ums Mitleiden. Menschen ohne Masken, Menschen, die für sich sorgen, die nicht einfach so alles über sich ergehen lassen und deutlich sichtbar anders handeln, vielleicht sogar anders handeln MÜSSEN, weil es der Körper nicht mitmacht, sind nun nicht mehr der potentielle Tod. Sie sind nicht mehr das Risiko für andere. Nein, sie sind die Mitleid-Verweigerer.

DAS geht ja mal gar nicht. ALLE müssen leiden, selbst die Kinder nun in der Schule, da kann ich doch mal meinen Arsch zusammenkneifen, mich nicht so anstellen und gefälligst ordentlich mitleiden. Mich im Leid solidarisch zeigen und mich nicht rausreden mit fadenscheinigen Argumenten.

Heute habe ich wieder viel beobachtet. Ich war einkaufen. 🤣Mittlerweile schon DER Kalauer schlechthin.

Tatsächlich habe ich inzwischen ein Attest. Der Kampf gegen Windmühlen ging mir auf den Nerv. Doch nun reicht das wieder nicht so richtig. Es ist wieder falsch, schon alleine deswegen, weil ich einfach nicht bereit bin, mitzuleiden. Da waren die vorwurfsvollen Blicke der Verkäuferinnen und ich konnte es förmlich hören: "Wir müssen das Ding 8 Stunden tragen und du schaffst es noch nicht mal, es beim Einkaufen aufzusetzen. Was sollen wir denn sagen?" Und eine hat es dann auch entsprechend ruppig ausgesprochen: "Wir wären die Maske auch gerne endlich wieder los." Solche Kommentare sind mir auch bei meine letzten Posts zu dem Thema immer wieder begegnet. "Wir müssen ja auch."

Ich kenne solche Art Vorwürfe aus meiner Familie. Bei uns gab es lange Zeit ein "Spiel" - Wem geht es schlechter? Anerkennung und Bewunderung galt nur dem, der am meisten litt. Sätze wie "Du hast es mit deinen Problemen ja noch gut. Was soll ICH denn sagen?" oder "Ich kann auch nicht einfach alles hinschmeißen und abhauen." kenne ich nur zu gut. Jeder, der für sich sorgte und ausstieg aus dem scheinbar vorgeschriebenen Familienleiden, war der Depp, der Drückeberger, das Weichei, der Verräter. Ich also. Weil ich schon immer über kurz oder lang gut für mich gesorgt habe.

Ja, es kommt Verrat gleich, wenn man einfach aufhört, brav das kollektive Leid zu teilen. Lange wirkte da ein Satz tief in mir: "Mir darf es nicht besser gehen als meinen Eltern. Mir darf es nicht besser gehen als anderen." Die damit verbundene Schuld, wenn es dann doch mal so war, muss ich wahrscheinlich nicht erwähnen...

Und da stehen wir anscheinend gerade in diesem globalen Theaterstück. Anstatt die dafür zu feiern, die gut für sich sorgen und sich die Dinge so gut es geht erleichtern, sich befreien und Lösungen finden, zeigt man anklagend auf sie und fordert, dass sie wieder zurück ins Haifischbecken springen. Als die Kanzlerin das erste Mal darauf angesprochen wurde, dass sie ja keine Maske trägt, war der Tenor nicht "Wir wollen auch keine tragen. Wir wollen auch frei sein." sondern es wurde gefordert, dass sie gefälligst auch leidet und ebenfalls eine aufsetzt. Was sie dann auch - zumindest vor Kameras - getan hat. Super. Davon haben jetzt alles was. Ist es jetzt besser, weil wieder einer mehr mitleidet? Mitleid ist aus meiner Sicht falsche Solidarität.

Solidarität definiert sich u. a. wie folgt: "Unbedingtes Zusammenhalten mit jemandem aufgrund gleicher Anschauungen und Ziele." (Quelle: Google) Mir ist Zusammenhalt und Verbundenheit im Namen der Freiheit, des Wohlbefindens, des Wachstums, der Leichtigkeit, Freude und der eigenen Größe weit lieber. DAS ist mein Ziel.

Ich werde mich nicht klein machen, nur weil andere sich nicht groß machen können/wollen. Ich werde nicht aus falscher Solidarität etwas über mich ergehen lassen, nur damit andere nicht daran erinnert werden, dass sie ebenfalls für sich sorgen könnten. Ich werde wohl weiterhin die Schattenpriesterin sein und alleine durch meine Existenz eine Provokation.

Versteht mich nicht falsch. Ich habe nach wie vor enorm Mitgefühl mit einem jeden, der gerade in extrem herausfordernden Umständen unterwegs ist. Ich habe extremstes Mitgefühl mit all den Kindern, mit jeder Verkäuferin, jedem Verkäufer, mit jedem, der durch irgendwelche Umstände in seiner Freiheit eingeschränkt ist. Viele fühlen Ohnmacht und Wut, Verzweiflung und Angst. Ich kann verstehen, wenn jemand das Gefühl hat, nichts dagegen tun zu können. Ich kenne diese Gefühle nur zu gut von mir selbst. Ich war die Unfreiheit in Person. All diesen Menschen ist aber nicht geholfen, wenn ich und andere auch leiden. Dieses Prinzip hat noch nie funktioniert.

Mir darf es gut gehen. Nicht nur das. Mir darf es sogar besser gehen als anderen. Ich gehe nicht mehr zurück auf die Stufe des Leidens. Die anderen dürfen hochkommen auf die Stufe der Freiheit. Oder eben auch nicht. Ihre Wahl. Meine Wahl steht auf jeden Fall fest: Mir darf es gut gehen und jedem anderen auch. Für jeden, der auch in die Freiheit will, stehe ich mit Rat und Tat zur Seite.

 

Foto: Canva
Text und Gestaltung: Anja Reiche