Montag, 3. August 2020

Ich ent-schuldige die Täter

Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Narzissmus und Egoismus erlöst werden dürfen. Erlöst in dem Sinne, dass die Urteile darüber zurückgenommen werden.

Nach wie vor bin ich der Meinung, dass es keinen Menschen gibt, der von Grund auf böse ist. Alles, was wir als böse definieren, geschieht aus meiner Sicht aus einer tiefen Verletztheit heraus. Es geht gefühlt im Grunde nicht darum, einem anderen mutwillig zu schaden. Ich glaube es ist eher so, dass die eigenen Bedürfnisse des "bösen Menschen" so sehr im Vordergrund stehen, dass er es entweder billigend in Kauf nimmt, dass jemand anders dadurch zu Schaden kommt oder es sogar so ist, dass der Narzisst, der Egoist so sehr mit sich beschäftigt ist, dass er den anderen und dessen Bedürfnisse überhaupt nicht wahrnimmt. Sie sehen den anderen schlicht nicht oder nur als Bedürfniserfüller, der zur Verfügung zu stehen hat, weil die eigene Not so groß ist.

Vermutlich KANN der Narzisst, der Böse den anderen gar nicht wahrnehmen. Er ist so sehr mit sich und seiner Bedürfniserfüllung beschäftigt, dass damit alle Kapazitäten ausgelastet sind. Overloaded sozusagen. Da ist kein Platz mehr, um andere wahrzunehmen. Und vielleicht ist Mitgefühl und Empathie generell nicht möglich, weil er sich selbst schon gar nicht wahrnehmen kann. Abgeschnitten vom Mitgefühl auch für sich selbst. Wenn ich mich nicht spüren kann, weil ich alles gedeckelt und weggesperrt habe an Schmerz, Angst, Wut, Verletzung, wenn ich den Kontakt zu mir und meinem Innersten komplett verloren habe, wenn da keiner wohnt, der Körper nicht beseelt ist oder nur wenig, kann ich andere gar nicht oder nur schwer spüren. Wie soll das gehen?

Ohne die eigene Quelle in mir, ohne Anbindung ans Leben, an das Göttliche, an die Schöpfung, muss ich andere Wege finden, um versorgt zu werden. Wenn ich um die eigene Anbindung nicht weiß, müssen andere liefern. Wo soll sonst "etwas herkommen"?

Wen wundert es also, wenn über kurz oder lang das große Hauen und Stechen losgeht, weil jeder denkt, er kommt zu kurz und jeder etwas vom anderen zu brauchen glaubt? Man denkt sich die krassesten Strategien aus, um an das Lebensnotwendige zu kommen. Es ist dann nur normal, in diesem "Weltbild" der Getrenntheit, mit allen möglichen Mitteln zu versuchen, andere dazu zu bringen, dass sie das machen, was mir zu Gute kommt. Eigentlich nur logisch. Niemand will das Opfer sein. Niemand will mit dem Ofenrohr ins Gebirge schauen, der Verlierer sein. Also nimmt man es dafür in Kauf der Täter zu sein und auf Kosten anderer, den Vorteil zu haben.

Zugrunde liegt der Trugschluss der Trennung, der Trennung von der eigenen Quelle, von sich selbst, der Natur, der Schöpfung, der göttlichen Anbindung. Ein Narzisst muss kein Narzisst mehr sein, wenn er die Quelle in sich selbst findet.

Meine Wahrheit ist tatsächlich, dass es keine bösen Menschen gibt. Ich habe Mitgefühl, ganz viel Mitgefühl, denn ich weiß wie fies dieses Gefühl der Getrenntheit ist, dieses Gefühl des Abgeschnittensein, sich selbst nicht wahrnehmen zu können. Ich kenne das Gefühl alles und jeden als Bedrohung zu fühlen, immer im Mangel zu sein, sich unfähig zu fühlen, ohnmächtig, verlassen, leer. Ich kenne das Streben nach Macht über andere, um die eigene Ohnmacht nicht fühlen zu müssen, um ein Mindestmaß an "Sicherheit" zu haben. Ich komme da her, hatte mich verloren.

Nimm den größten Schurken, den Menschen, den du am meisten verurteilst, zieh seine Schuhe an und geh seinen Weg, schau durch seine Brille, fühle seine Gefühle, seinen Schmerz und dann sag noch mal, er wäre böse. Schätzungsweise hat er sich einfach nur selbst verloren.

Es geht gar nicht so sehr um Vergebung. Es geht um Verstehen. Es geht nicht um Schuld. Es geht um Ursache und Wirkung und die großen Zusammenhänge.

Ich nehme heute ganz bewusst noch einmal alle Urteile zurück, die ich je über "Täter" gefällt habe. Ich ent-schuldige sie. Ich lasse sie frei. Spreche sie frei. Und damit spreche ich mich frei. Ich bin ent-schuldigt. Jeder ist ent-schuldigt. Gott richtet nicht, wieso sollte ich es tun?

(Wer mag kann meinen dazu passenden Podcast hören: https://anchor.fm/anja-reiche/episodes/Es-gibt-keine-bsen-Menschen-e8ivhr)

Foto: Canva
Text und Gestaltung: Anja Reiche