Mittwoch, 29. August 2018

Mein innerer Mann ist erschöpft


So viele Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte hat er gemacht und getan, sich abgerackert und ständig versucht, alles unter Kontrolle zu behalten, dafür zu sorgen, dass ich versorgt bin, dass Geld reinkommt, dass ich funktioniere, dass ich leiste.

Er hat sich in all der Zeit keinen schwachen Moment erlaubt. Er hat die Zähne zusammen gebissen und weitergemacht, auch wenn er mehr als einmal an seinen Grenzen war, ja sogar schon weit darüber hinaus. Schwach sein, krank sein, sich ausruhen, Stunden der Muße, Genuss, Leichtigkeit, das kennt er alles nicht. Er kennt es nicht, dass er getragen wird. Er trägt und das ziemlich schwer.
Alles lastet auf seinen Schultern, die drohende Gefahr sitzt ständig im Nacken. Er alleine hat alles zu stemmen, alles zu bewältigen, alles zu analysieren und immer den "sichersten" nächsten Schritt zu wählen. Er kennt es nicht, versorgt zu werden. Er kennt es nicht, weich zu sein, nachlässig, naiv, gutgläubig, voller Vertrauen ins Leben. Dem einzigen, dem er vertraut, ist sich selbst.

Diese Härte, diese Last, dieses stete Tun und kontrollieren wollen, das Zähne zusammenbeißen und Durchhalten um jeden Preis hinterlässt Spuren. Der Körper ächzt, er wird hart im wahrsten Sinne des Wortes. Verspannungen in Schultern und Nacken, Ablagerungen in den Gelenken und Blutgefäßen. Die Zähne werden porös, weil total überfordert. Karies entsteht aufgrund der vielen faulen Kompromisse. Das ständige Zusammenbeißen und Durchbeißen schwächt die Zähne zusätzlich, weil die Energie nicht mehr fließen kann. Entzündungen können im ganzen Körper auftreten, weil wir ständig kämpfen - gegen uns selbst, gegen das Leben, gegen die Leichtigkeit, die Freude, den Genuss.

Wie ich auf all das komme? Ich saß gerade im Wald und habe meditiert. Da kam dieses Gefühl der Sinnlosigkeit, dass alles Tun und Machen ja doch zu nichts führt und Selbstheilung wohl doch eine Farce ist. Tief in mir weiß ich, dass es anders ist und ich habe ja schon erlebt, daß Selbstheilung und die Art wie ich meinen Weg gehe, hervorragend funktionieren und dennoch war da dieses Gefühl. Es war sein Gefühl. Mein innerer Mann fühlt sich so. Das ständige Rackern ist so sinnlos.

Ich habe in den letzten Tagen unfassbar viel geschlafen, war total erschöpft. Ich habe auch wieder gefastet aus einem plötzlichen Impuls heraus. Das hat nochmal mehr zu meiner Schwäche beigetragen. Beim letzten Mal Fasten sind ganz viele Symptome verschwunden, dieses Mal nicht.

Also sitze ich da vorhin im Wald an meinem Kraftplatz und spüre hin, stelle mir vor, ich wäre mein rechtes Knie, das immer noch nicht längere Strecken gehen mag. Und plötzlich sehe ich all die Ecken und Kanten, die Verhärtungen. Da fehlte das Weiche. Ich sehe meine innere Frau, das weibliche Prinzip, das sich in Demut verneigt, vor dem Leben in tiefer Dankbarkeit in die Knie geht. Und dann sehe ich meinen inneren Mann, der stocksteif dasteht und auch nach mehrmaligem Bitten nicht nachgibt. Er kann und will es sich nicht erlauben, in die Knie zu gehen, sich hinzugeben, demütig zu sein. Er muss ja schließlich leisten und aufpassen und kontrollieren.

Tatsächlich bin ich über diese Bilder überrascht. Ich gebe dem Weiblichen, Weichen, der Hingabe und dem Vertrauen so viel Platz und Raum und das schon seit einiger Zeit. Und während ich das tippe, muss ich echt grinsen. Meine Güte, was sind ein paar Monate, in denen ich das tatsächlich tue, im Vergleich zu Jahrhunderten???

Natürlich ist mein innerer Mann erschöpft. Natürlich braucht es immer wieder extreme Ruhephasen. Natürlich braucht mein Körper noch Zeit für die Regeneration. Ich darf milde mit mir sein. Ich darf Geduld haben. Ich darf mich wieder und wieder ganz extrem ausruhen.

Dieser Mann in mir, er darf zusammenbrechen, er darf sich erholen, er darf Schwäche zeigen, er darf nicht mehr können. Und da sehe ich sie nun sitzen. Meine innere Frau sitzt am Boden, der Mann liegt bei ihr, erschöpft und schon am Einschlafen, den Kopf auf ihrem Schoß. Sie streichelt ihn und versichert ihm, so lange bei ihm zu sitzen, bis er wieder aufwacht. Das darf jetzt so sein. Die Frau ist sich ihrer Sache so sicher, dass der Mann sich darauf einlassen kann. Er spürt, dass sie recht hat. Er spürt, dass sie weiß, was sie tut. Er spürt, dass sie mehr weiß als er. Sie trägt das alte Wissen in sich.
Ich lasse ihn ruhn. Ich lasse ihn in ihrer Obhut. Sie weiß, was zu tun ist. Sie kennt den Weg in die Heilung. Und er darf sich entspannen, ausruhen, regenerieren. So sei es!

Foto: Canva
Gestaltung und Text: Anja Reiche