Montag, 27. Juli 2015

Wie die Kindheit in uns nachwirkt

Ich beschäftige mich ja schon lange mit den Auswirkungen, die die Kindheit auf unser Erwachsenenleben hat, und war mehr als einmal überrascht, wie sehr uns Prägungen von damals heute beeinflussen, ohne dass wir uns dessen unbedingt bewusst sind. Niemals hätte ich gedacht, dass die Kindheit so mächtig ist, dass das verletzte innere Kind so oft das Zepter in die Hand nimmt und für uns in Situationen reagiert, in denen alte Wunden getriggert werden. Es sind meist solche Situationen, von denen wir hinterher sagen, dass die Pferde mit uns durchgegangen sind oder dass wir nicht anders konnten, dass wir keine Macht mehr über uns hatten. Und das stimmt. In solchen Momenten reagiert das innere Kind und unser erwachsenes Ich hat Sendepause.

Nun habe ich die Tage einen Blogartikel zu diesem Thema gelesen, der mich angeregt hat, meine Prägungen und deren Auswirkungen heute mal genauer zu beschreiben. (Den Link von dem Artikel findet ihr ganz unten.)

In meiner Kindheit ist eigentlich "nichts Schlimmes" passiert. Und das werden viele sagen können. Ich hatte immer ein Dach über dem Kopf, immer genug zu Essen, materiell hat es an nichts Essentiellem gefehlt und bis auf eine Ohrfeige, an die ich mich noch erinnern kann, wurde ich auch nicht geschlagen. Wir lebten in einer Großfamilie, drei Generationen unter einem Dach. Großeltern, wie Eltern waren in der eigenen Landwirtschaft tätig. Somit waren meine Eltern auch nie beruflich unterwegs, sondern eigentlich immer zu Hause. Und wenn die Eltern doch mal weg waren, dann gab es ja noch die Geschwister und die Großeltern. Es war also immer jemand da.

Dennoch habe ich Wunden davongetragen, Wunden, die eher subtil entstanden sind. Und es hat etwas gedauert, bis ich das akzeptieren konnte, denn mir ging es ja eigentlich gut. Es gibt ja "eigentlich" keinen Grund, sich zu beschweren. Darum geht es auch nicht, um das sich beschweren. Es geht darum, genauer hinzusehen, darum, herauszufinden, wie die Kindheit heute noch Macht über uns hat und nachwirkt, unser Leben beeinflusst. Und darum, mir all das, was ich als Kind nicht bekommen habe nun als Erwachsene selbst zu geben, denn dazu bin ich in der Lage.

Mir ist klar, dass ich hier nur über meine Wahrheit, mein Erleben und meine Sicht der Dinge schreibe. Ich kann nur von dem sprechen, was ich weiß, was mir erzählt wurde, was ich erlebt habe. Und damit bewegen wir uns wohl an der Spitze des Eisbergs. Meine Eltern haben ihre Sicht, ihre Erlebnisse, ihre eigene Kindheit und aus ihrer Sicht auch recht. Jeder erlebt die Welt individuell, sieht durch seine "Brille". Betrachte ich die Kindheit meiner Eltern, dann kann ich zutiefst verstehen, warum sie sich so verhalten haben, warum sie so mit uns umgegangen sind, warum sie so sind wie sie eben sind. Und ich möchte keinem von beiden auch nur den leisesten Vorwurf machen. Auch sie wurden geprägt und von unglücklichen Eltern mit schwierigem Hintergrund in den Nachkriegsjahren großgezogen.

Verglichen mit meinen Eltern hatten wir Kinder es wirklich gut. Wie gesagt, eigentlich ist nichts Schlimmes passiert. Eigentlich...

Aber daran, wie ich es erlebt habe, ist nun einmal nichts zu rütteln. Vieles mag anders gemeint gewesen sein, aber was zählt, ist, was bei mir ankam, wie ich es empfunden habe, wie ich es für mich gedeutet und einsortiert habe, was es mit mir gemacht hat. Und darum geht es ja. Dass man herausfindet, welche Spuren die Kindheit hinterlassen hat, welche Muster und Überzeugungen man mitgenommen hat, welche Wunden man davongetragen hat und das alles zu heilen und zu lösen, um jetzt in die Freiheit zu kommen und in seine wahre Größe, zurück zu sich selbst.

Mir geht es nicht um eine Elternschelte. Ich weiß, dass sie mich geliebt haben und immer noch lieben. Ich weiß, dass sie immer ihr Bestes getan haben und dafür bin ich ihnen mehr als dankbar. Ich verdanke ihnen viel. Sie haben mir wirklich viel beigebracht und viel für uns Kinder getan. Man könnte sagen, sie haben sich für uns krumm gemacht, jeden Tag. Sie wollten, dass es uns besser geht, als ihnen damals in den Nachkriegsjahren. Sie wollten, dass wir materiell versorgt sind und dafür haben sie wahrlich hart gearbeitet, Tag und Nacht. In der Landwirtschaft gibt es keinen Feierabend, kein Wochenende, da bestimmt das Wetter den Rhythmus und die Tiere, die versorgt werden wollen.

Und damit fing es schon an, mit der ganz einfachen Tatsache, dass wir einen Bauernhof hatten, der immer im Vordergrund stand. Ich habe es so erlebt, dass ich und meine Bedürfnisse immer zweitrangig waren. Der Bauernhof und die Bedürnisse meiner Eltern standen immer an erster Stelle. Aus ihrer Sicht natürlich selbstverständlich. Wenn ich meiner Mutter etwas erzählen wollte, dann musste ich ihr beim Arbeiten hinterherlaufen. Wenn ich irgendwo hingefahren werden musste, dann ging das nur, wenn mein Vater Zeit hatte und mich bringen konnte. Und dann auch nur mit Murren, weil dann ja so viel Arbeit liegen blieb in der Zeit. Ich erfuhr also sehr früh, dass ich meine Bedürfnisse unterordnen muss und dass ich eine Last war. Selbstverständlich mussten wir Kinder auf dem Bauernhof mithelfen. Da hieß es also gleich nochmal die eigenen Bedürfnisse hinten anstellen und machen, arbeiten, funktionieren, hart im Nehmen sein, nicht meckern sondern machen. Während andere Kinder im Sommer im Schwimmbad waren, waren wir auf dem Feld und haben das Stroh eingebracht. Durfte ich dann doch mal ins Schwimmbad, dann musste ich abends gleich noch mehr auf dem Hof mit anpacken. Schließlich hatte ich ja einen schönen Tag gehabt und alle anderen nicht. So habe ich früh gelernt, dass Schöne Dinge, gute Ereignisse direkt "bestraft" werden. Ich lernte, dass es mir nicht besser gehen durfte, als anderen. Etwas Schönes zog immer etwas Negatives nach sich.

Die Gelegenheiten, bei denen meine Eltern mit mir oder mit uns allen gespielt haben, sich wirklich mit uns beschäftigt haben, sich auch mal um schulische Dinge gekümmert haben, kann ich an einer Hand abzählen. Wir wurden ganz früh zur Eigenständigkeit erzogen, mussten selber sehen, wie wir klarkommen. Mal über Probleme reden war da einfach nicht drin. Fast alles habe ich mit meiner älteren Schwester, manchmal mit meinem älteren Bruder besprochen, oder natürlich mit meinen Freundinnen. Das waren meine wirklichen Bezugspersonen. Ich habe daraus den Schluss gezogen, dass ich es nicht wert bin, dass man Zeit mit mir verbringt.

Der Ton bei uns zu Hause war ziemlich rau. Jeden Tag gab es Streit und Ärger zwischen irgendwem der sieben Familienmitglieder und mit Schimpfwörtern und Schreierei wurde da nicht gespart. Entschuldigt hat sich nie jemand beim anderen oder gar die Situation geklärt und den Streit beigelegt. Weit gefehlt. Es war dann wieder gut, wenn man wieder normal mit dem anderen sprach. Mich zu entschuldigen, Fehler einzugestehen und zu meinen Handlungen zu stehen, das durfte ich später außerhalb der Familie lernen. Ein wohlwollender, wertschätzender Umgang war nicht vorhanden. Viel eher wurde einem erzählt, was man nicht konnte, wie doof man sich wieder angestellt hat und dass es anders doch viel besser gewesen wäre. Ich hab mich von meinem Freund getrennt - "Ja, mit nichts bist du zufrieden. Du hattest bei ihm doch alles gehabt." Ich hab mein Auto verkauft - "Ja, warum um Himmels Willen denn das? Das war doch noch gut." Ich hab meinen Job gekündigt - "Ja, wieso denn nur? Du hast doch jeden Monat dein Geld bekommen?" Materielles war wichtig, das Gefühl und der Seelenfrieden zählten nicht.

Generell galt "Stell dich nicht so an und mach!". Von wegen beim Schlachten nicht helfen, von wegen etwas nicht tun wollen, etwas nicht essen wollen. Die Suppe schmeckt nicht? Dann kommt noch eine Kelle oben drauf! Wie sich das auf mein Selbstbewusstsein und mein Selbstwertgefühl ausgewirkt hat, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Man durfte sich halt nur nicht so anstellen, dann ging das schon. So lernte ich also eigene Gefühle und Wahrnehmungen zu verdrängen, mich anzustrengen und hart zu arbeiten. Ich lernte auch das Schuldgefühl kennen und das Gefühl, nicht zu genügen, nicht das Richtige zu tun und nicht genug zu tun. Ich lernte, dass das Leben hart ist und dass die eigenen Belange unwichtig sind.

Gerade was meine Mutter angeht, waren die Erfahrungen für mich besonders prägend. Ich habe sie als sehr streng erlebt. Es galten ihre Regeln und sonst keine und es gab mega viele Regeln. Das ging so weit, dass sie mir bei der Küchenarbeit sogar vorschrieb, welchen Löffel oder welche Schüssel ich für welche Tätigkeit nehmen musste. Sie überwachte mit ihren Adleraugen wirklich jeden Schritt und jeden Vorgang und wehe, man machte es nicht genau nach ihren Vorstellungen und genau zu dem Zeitpunkt, den sie für richtig hielt. Und von wegen beim Gemüseschnippeln könnte man sich hinsetzen. Das macht man im Stehen. Anstrengend muss es sein!

Gefühlt gab es keinen Freiraum für eigene Ideen, für eigenes Wachsen, für die eigene Persönlichkeit. Wenn es Streit gab, durfte ich nicht wütend sein, durfte mich nicht zurückziehen und in Ruhe über alles nachdenken, sondern musste wieder mit in den Kreis der Familie und gute Miene zum bösen Spiel machen. Sie hatte immer Recht, hat sich nie versprochen und nie etwas falsch gemacht. Wenn, dann haben sich die anderen verhört, es falsch verstanden oder es war deren Schuld, wenn etwas schief ging. Sie war auf jeden Fall unfehlbar. Ich war so oft wütend darüber, weil ich wusste, dass es anders war und dass sie nicht recht hatte, dennoch lief ich gegen eine Wand. Sie war die Macht. Sie hatte Recht und Punkt. In Disskussionen war sie nicht zu greifen, wand sich aus allem raus. Am Ende war ich es, die alles falsch verstanden hatte. Ich weiß noch, dass ich mit zwölf Jahren einen Kassettenrekorder auf Aufnahme unter den Schrank gelegt hatte, um sie zu überführen. Leider ist in der Zeit nichts dergleichen passiert und hätte ich sie mit der Kassette "überführen" können, hätte sie sie wahrscheinlich wutentbrannt weggeworfen und nichts davon wäre wahr gewesen.

Wenn ich Schulfreundinnen Briefe schrieb, dann wollte sie alles lesen. Die Briefe von mir, genauso wie die Briefe, die dann von meinen Freundinnen kamen. Wenn ich in meinem Zimmer etwas in den Papierkorb warf, dann wurde das von ihr noch einmal zensiert und durchstöbert. Wollte ich das wirklich wegschmeißen? Und was ist das? Es gab keine Privatsphäre. Gerade in der Pubertät hat mich das fast um den Verstand gebracht. Sie kam rein, ohne zu klopfen, stellte indiskrete Fragen.

Wie oft haben wir uns gestritten, wie oft habe ich sie angeschrien, weil ich mir nicht mehr anders zu helfen wusste. Was habe ich geweint und getobt und mich gewehrt. Leider ohne Erfolg. Und immer, wenn es zu einem Streit mit meiner Mutter kam, kam hinterher mein Vater und fragte, ob das denn wieder hatte sein müssen. Ich wüsste doch wie sie wäre und nun würde er sich das alles wieder von ihr anhören müssen. Also hatte ich es gleich nochmal falsch gemacht. Jetzt war ich nämlich auch noch daran schuld, dass es meinem Vater schlecht ging.

Und nach jedem Streit hatte ich natürlich Angst, dass ich es diesmal zu weit getrieben hatte, dass sie mich jetzt nicht mehr mögen würden, mich verstoßen würden, ich nicht mehr versorgt wäre.

So lernte ich früh Ohnmacht und Wut kennen und ich hasste diese Gefühle, diese Hilflosigkeit, das Wissen, nichts dagegen tun zu können, denn sie saßen am längeren Hebel. Ich lernte, dass es immer eine Macht gab, die stärker ist als ich und der ich mich fügen muss. Ich lernte, dass ich keine eigenen Grenzen haben durfte. Ich lernte, mich schuldig zu fühlen und Bürden auf mich zu nehmen, mich dafür verantwortlich zu fühlen, wenn es anderen schlecht ging und noch mehr meine eigenen Bedürfnisse und Gefühle hinten anzustellen.

Aus all diesen Erlebnissen ergaben sich hinderliche Überzeugungen, die mich im Erwachsenenleben besonders beeinflusst haben, die gelöst werden wollten:
-Ich muss immer stark sein.
-Ich darf nicht schwach sein.
-Ich darf nicht faul sein.
-Ich darf nicht genießen.
-Ich darf nicht giftig sein. (Ich wollte ja nicht so sein wie meine Mama.)
-Ich darf mich nicht aufdrängen, nicht einmischen, nicht indiskret sein. (Wieder wollte ich nicht so sein wie meine Mama.)
-Ich darf niemandem zur Last fallen.
-Ich muss immer dafür sorgen, dass es den anderen gut geht.
-Meine Bedürfnisse sind unwichtig.
-Ich kann meinen Gefühlen nicht vertrauen. (Sie wurden ja immer als falsch dargestellt.)
-Ich muss mich unterordnen.
-Ich tue nicht genug.
-Ich tue nicht das Richtige.
-Mir darf es nicht besser gehen als meinen Eltern.
-Ich darf nicht wütend sein.
-Auf etwas Gutes, Schönes folgt immer eine "Strafe".
-Genussmomente muss ich mir stehlen, weil es eigentlich verboten ist, zu genießen.
-Die Meinung der anderen zählt mehr.
-Wenn ich bin, wie ich bin, werde ich abgelehnt.
-Mein Gefühl bringt mich immer in Schwierigkeiten.
...

Wut, Ohnmacht, Schuld, Wertlosigkeit und Angst waren die Hauptgefühle, die es als Erwachsene galt, anzunehmen und in Fluss zu bringen.

Wen wundert es also, dass ich beruflich oft Situationen mit dem Chef erlebte, in denen ich mich ohnmächtig fühlte, er am längeren Hebel saß, dass mir immer wieder Menschen über den Weg liefen, die ihre Wut frei zum Ausdruck brachten und mich mit meiner unterdrückten Wut konfrontierten? Wen wundert es, dass es lange gedauert hat, bis ich gemerkt habe, dass ich etwas besonderes bin, dass ich etwas besonderes kann, so wie jeder das von uns ist und kann? Wen wundert es, dass ich in Beziehungen oft erlebt habe, dass die Bedürfnisse meines Partners wichtiger zu sein schienen als meine eigenen? Wen wundert es, dass ich lange keine Hilfe annehmen konnte, immer alles selber machen wollte, weil ich keinem zur Last fallen wollte? Wen wundert es, dass ich lange sehr zurückhaltend und schüchtern war, ständig an mir gezeifelt habe? Niemandem zu nahe treten wollte, mich nur nicht ungefragt in ein Gespräch einmischen wollte, nicht indiskret sein wollte? Immer das Gefühl hatte nicht genug zu tun, nicht das Richtige zu tun, gerade als es um meinen eigenen Weg ging, als ich merkte, dass ich medial war und damit nichts ordentliches leistete, nichts körperliches, nichts greifbares? Mich geschämt habe, dass ich mich nicht anstrengen will in diesem Leben, mich nicht krumm machen will, genießen will, Freude und Leichtigkeit leben will?

Heute weiß ich, warum ich das alles erlebt habe. Es waren alles Produkte meiner tiefsten Überzeugungen! Heute weiß ich, dass ich hochsensibel bin und dass all diese Eindrücke von damals wie durch einen Verstärker auf mich gewirkt haben und ich sie deshalb doppelt so "schlimm" erlebt habe, sie noch tiefer drangen.

Ich kann nur jedem raten, sich sein aktuelles Leben ganz genau anzuschauen, Situationen, die immer wiederkehren und bestimmte Gefühle in einem auslösen und dann zu schauen, ob es vielleicht ähnliche Situationen und Gefühle in der Kindheit gab. Überzeugungen, die damals geprägt wurden und heute noch wirken. Vielleicht kommt dir ja so manches von dem, was ich erzählt habe, schon bekannt vor.

Es tut so gut, sich aus all dem zu befreien. Es tut so gut, sein wahres Wesen immer mehr zu entdecken und alles abzulegen, was eigentlich gar nicht zu einem gehört. Es tut so gut, immer mehr in die Freiheit und in die eigene Kraft zu kommen und wieder der zu werden, der wir eigentlich sind. Es tut so gut, das verletzte innere Kind in den Arm zu nehmen und ihm jetzt alles zu geben, was es damals nicht bekommen hat. Und es tut nicht nur gut, sondern es macht uns wieder heil und ganz und kraftvoll.

Werden wir also wieder die, die wir eigentlich sind!!!

Herzensgrüße von mir!
Anja

PS: Schreibt mir gerne in den Kommentaren, was dieser Text mit euch macht. Kommt euch etwas bekannt vor?

PSS: Hier der Link zu dem oben erwähnten Artikel über Erziehung: http://norbert-rogsch.com/am-anfang-ist-erziehung-2/


Nachtrag vom 04.08.2015:In meinem nächsten Artikel "Frieden mit den Eltern" findet ihr 8 Punkte, die mir geholfen haben, Frieden in mir und mit meinen Eltern zu finden.


Foto: Anja Reiche