Montag, 12. Dezember 2022

Ich habe einen Ruf zu verlieren

Ich habe einen Ruf zu verlieren
und zwar den meinen.
Den Ruf im Innersten,
mit dem mich das Leben auffordert,
das Meine zu tun.

Das Leben ruft mich jeden Tag,
in jedem Moment.
Folge ich diesem Auf-Ruf,
dieser Bitte, dieser Anrufung,
meiner BeRUFung?

Diesen Ruf verliere ich unweigerlich,
höre ihn nicht, folge ihm nicht,
wenn es mir wichtiger ist,
was andere von mir denken,
was andere in mir sehen,
wie sie mich ansehen,
was sie erwarten.

Da könnte ein Bild zu Bruch gehen.
Da könnte Ent-Täuschung stattfinden.
Da könnten sich Menschen von mir abwenden,
wenn ich rigoros, zügellos, kompromisslos
diesem Ruf folge.
Das ist wahr.

Kann ich tatsächlich etwas verlieren,
das zu mir und meinem Weg gehört?
Kann tatsächlich etwas Essentielles flöten gehen?
Ist es wirklich ein Verlust,
wenn sich Umstände und Beziehungen verändern,
weil ich endlich wahrhaftig bin?

Haben Menschen davor nicht lediglich
ein Abbild von mir geliebt?
Etwas, das ich eigentlich gar nicht bin?
Diese Liebe galt nicht mir.
Sie galt einer Idee von mir.
Einer Idee, die ich mit meinem Schauspiel genährt habe.

Es darf sich verändern,
wie Menschen mich an-sehen.
Ich darf mich zeigen,
wie ich eigentlich bin.
Pur. Unverhohlen.
Zügellos. Scham-los.
Unverblümt. Ungeschminkt.
Echt. Ganz. Total.

Wer dann noch bleibt,
meint wirklich mich.
Vor allem meine ich mich endlich selbst.

Ich verliere lieber mein Ansehen
und den Schein,
als dass ich meinen Ruf verliere.
Ich mag meinen Ruf behalten.
Mich. Die Verbindung.
Ich mag bei mir bleiben
und für mich gehen.


Foto: Canva
Text und Gestaltung: Anja Reiche