Dienstag, 4. März 2025

Verstehen hat meistens nichts mit Wollen zu tun

Ich hab lange gedacht, dass mich der Andere verstehen könnte, wenn er denn bloß wollte, dass es Absicht ist, Verweigerung, bewusste Erniedrigung, oder gar grundlegendes Desinteresse.

Das war meine Überzeugung: Wenn er wirklich wollen würde, könnte er. Was natürlich Wut und Enttäuschung mit sich gebracht hat, Frust und Schmerz, Trauer und Unzufriedenheit. Ich versteh doch auch immer alle, fühle tief mit, erfasse, interessiere mich, will wissen, frage nach, so lange, bis ich es wirklich erfasst habe.

Heute habe ich auf all das eine komplett andere Sicht. Mir ist bewusst geworden, dass es in den meisten Fällen nicht am Wollen liegt, sondern am Können. An der Befähigung. Die Welten, die ich in mir erforscht habe, hat derjenige, der mich nicht verstanden hat, meistens noch nicht im Ansatz betreten. Wir teilen nicht nur nicht ähnliche Erfahrungshorizonte. Die tiefe und weite des Bewusstseins, der Bewusstseinsentwicklung ist nicht im Ansatz vergleichbar. Manche Wahrnehmungsebenen gibt es beim Anderen einfach noch nicht.

Selbstreflexion ist eine Befähigung, die nicht von Geburt an da ist. Sie kommt im Laufe einer gesunden Entwicklung irgendwann hinzu, wenn es um mehr geht, als um das kindliche Überleben oder Dazugehören. Dann, wenn der Fokus von der Belieferung im Außen ins Innen gerichtet wird, das eigene Ich erforscht wird. Danach kommt irgendwann der Schritt, dass festgestellt wird, dass es nicht nur das eigene Ich gibt, sondern dass jeder ein eigenes Ich hat, das die Welt ganz anders erfahren kann als ich. Dann erst kann ich mich mehr und mehr in Bezug zu anderen setzen, kann mich in Relation setzen, kann vielleicht andere Blickwinkel einnehmen, vergleichen.

Wenn die eigene Innenerforschung, das Verstehen von sich selbst und vor allem das eigene Fühlen und Mitfühlen mit sich selbst nicht stattfindet, kann auch kein Verstehen und Mitfühlen mit einem anderen stattfinden. Es geht schlicht nicht. Ich kann mich so gut erklären, versuchen auszudrücken, was ich meine, fühle, denke, wenn es im anderen nicht landen kann, weil kein Resonanzfeld da ist, die Innenwelt nicht erschlossen ist, bringt das alles nichts. Der Andere kann noch so sehr wollen - und das habe ich oft genug erlebt und gespürt, dass der Andere WIRKLICH WILL - und es gelingt dennoch nicht.

Hinzu kommt, dass Unbewusstheit über sich selbst zur Folge hat, dass auch von Trauma, verzerrter Sicht, von Schleiern und Filtern, von Begrenzungen und hinderlichen Überzeugungen nichts gewusst wird und derjenige davon ausgeht, dass jeder die Welt so sieht oder sehen muss, wie er selbst. Also auch ich. Da wird es drei Mal nichts mit "mich wirklich verstehen". Das geht nicht. Bei aller Liebe nicht. Der andere geht ja davon aus, dass ich so ticke wie er, und er deswegen schon alles über mich weiß. Und wenn ich abweichende Sichtweisen habe, dann wirkt das eher befremdlich und bedrohlich, als dass es Neugier weckt. Da wird eher versucht, mich wieder auf Spur zu bringen, als mich zu verstehen.

Als ich begriffen habe, dass es tatsächlich meistens nicht am Wollen liegt, ob der andere mich versteht, dass es keine Absicht ist, sondern meist eine Unfähigkeit und das alles nichts mit mir zu tun hat, also keine Aussage über mich ist oder die Wichtigkeit von mir, hat sich etwas in mir sehr beruhigt.

Tatsächlich war das "wenn er wollte, könnte er" eine kindliche Überzeugung, die berechtigt war, aber falsch. Natürlich bin ich als Kind davon ausgegangen, dass der Erwachsene mich verstehen können muss und wenn er mich doch nicht versteht, er nur nicht will. Natürlich habe ich als Kind gedacht, dass das was mit mir zu tun haben muss, dass ich ihm nicht wichtig genug bin oder dass er mich - aus welchen Gründen auch immer - ärgern will, Machtspiele betreibt oder böswillig ist. Ich konnte das als Kind alles nur auf mich beziehen. Größer war meine Welt nicht.

Heute ist sie größer. Meine Welt. Minimal 😉. Gott sei Dank. Und ich sehe, Verstehen hat ganz viel mit Können, also mit Befähigung zu tun.