Freitag, 12. April 2024

Das Dilemma der Kindheit - Beziehung als unlösbare Aufgabe

Ein Versuch, zu verdeutlichen, wie die Vergangenheit die Gegenwart beeinflusst und einfärbt. Auf wie vielen Ebenen das stattfindet und wie ich mich da durch begleite.

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Situation aus dem Jetzt – Ich als Erwachsene im Kontakt mit meinem Vater:

Ein verpasster Anruf auf meinem Handy. Eine Textnachricht von ihm hinterher: „Hallo, mein Liebling, warum gehst du nicht ans Telefon?“

Ein kurzer Satz. Scheinbar eine einfache Frage. Unterschiedlichste Botschaften in einer Aussage. Unterschiedlichste Gefühle werden in Millisekunden in mir ausgelöst. Es fühlt sich an, als würde es nicht um das gehen, nach dem gefragt wird. Auf welcher Ebene antworte ich?

Eine unfassbare Wut kommt hoch. Ich hab die Schnauze voll von dieser verdrehten, verkorksten, unklaren und für meine Begriffe unterschwelligen Kommunikation. Was soll ich verdammt nochmal mit dieser Frage anfangen? Es fühlt sich an als müsste ich mich erklären. Es fühlt sich an, als müsste ich zur Verfügung stehen. Alles scheinbar enthalten in dieser kurzen Frage. Echt, geht es jetzt wirklich darum, weshalb ich nicht ans Telefon gehe? Ich hab das Handy lautlos. Seit Jahren. Hab ich hundert Mal gesagt. Bist du jetzt zufrieden? Ist es wirklich das, was du wissen wolltest?

Ich könnte kotzen. Tippe wütende Worte und dann kommt die Ernüchterung.

Meine Wut und Verzweiflung würden nicht verstanden werden. Wurden sie nie. Ohnmacht.

Soll ich mich dennoch in Kontakt bringen, auch wenn es der andere nicht versteht? Mir doch egal, wenn er damit nichts anfangen kann.

Ich lese die Frage nochmal. Lese sie neutral, wie wenn ich sie irgendwo in einem Buch lesen würde. Lese sie, als würde der andere sich wirklich dafür interessieren, wieso ich nicht ans Telefon gehe. Was faktisch stimmt. Ich lösche meine Worte. Ich tippe neu.

„Ich geh äußerst selten ans Telefon. Es ist seit Jahren lautlos gestellt. Wenn ich also nicht zufällig das Handy in der Hand habe und sehe, dass jemand anruft, krieg ich es Gott sei Dank nicht mit. Zurückrufen tu ich auch fast nie. Ich mag das sehr. Meistens passt nämlich der Anruf nicht zu dem, mit was ich mich gerade befasse und was in mir lebendig ist und würde daher stören. Ich mach nur das machen, was wirklich stimmig ist. Danke für die Frage.“

Ich spüre Erleichterung, es genau so zu sagen, wie ich es eben empfinde. Wie es für mich stimmt. Sollen die anderen doch mal damit klarkommen, wie ich bin und nicht umgekehrt, ich immer mit dem klarkommen, wie die anderen eben sind und was sie brauchen. Die Erleichterung ist nicht lange da.

Da ist die Stimme, die mir sagt. „Schau mal, er interessiert sich doch für dich. Will Kontakt mit dir. Das wolltest du doch immer. Und jetzt gibst du ihm keine Möglichkeit mit dir zu sprechen. Er meint es doch nur gut.“ Schuldgefühle kommen hoch. Gewissensbisse. Ist das ungerecht? Ich stelle mir vor, wie das Gespräch laufen würde. Interesse ist vielleicht da, aber an Dingen, auf die es mir nicht ankommt. Materiell, oberflächlich und nicht zwischenmenschlich. Die Dinge, die mich interessieren haben darin keinen Platz. Und das, was ihn beschäftigt, will ich nicht hören. Es langweilt mich zu Tode. Alte Suppe. Schimpfen. Nichts daran ändern. Immer wieder das Gleiche. Wieso sollte ich mich dazu zur Verfügung stellen? Trotz kommt hoch. Wenn er sich wirklich für mich interessieren würde und das, was mich bewegt, kann er alles auf meinem Blog lesen. Mehr oder was anderes könnte ich ihm auch nicht erzählen. Ich bin doch schon mit allem sichtbar.

Auf der oberflächlichen Ebene, auf der wir uns gewöhnlich bewegen, will ich keine Begegnung. Ich spüre einen Anteil, der sich nicht entziehen darf. Der nicht enttäuschen darf. Der bleiben muss, damit es dem anderen gut geht. Ich habe Kontakt haben zu wollen, aber nach seinen Bedingungen. Da ist eine Erwartungshaltung. Ich darf keine unangenehmen Gefühle im anderen auslösen. Nur schöne. Und die werden eingefordert.

Ich richte mich viel zu sehr nach ihm, nach anderen. Ich verlasse mich. Passe mich der Welt des anderen an.

„Aber er vermisst dich doch!“ Er vermisst mich. Er vermisst MICH? Er vermisst SICH und ich soll den Schmerz lindern. Es geht nicht um mich, sondern darum wie er sich fühlt, wenn ich da bin. Ich werde missbraucht. Ich soll ein Loch füllen.

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Was sich hier zuträgt, ist eine Reinszenierung aus der Kindheit.

Das Dilemma der Kindheit - Beziehung als unlösbare Aufgabe -
wenn der Erwachsene keine Verantwortung für seine Gefühle übernimmt.

Entweder bleibe ich als Kind im Kontakt, beliefere und verlasse mich dafür - Schmerz!!! - oder ich wehre mich, verlasse mich nicht, liefere nicht, enttäusche den anderen und werde dann bestraft, Schuldzuweisung, Vorwürfe - Schmerz!!!

Als Kind unlösbar. Der Brocken, die Aufgabe ist zu groß und vor allem nicht zu bewältigen.
Überforderung
Not
Verzweiflung
Wut

Was wieder nicht sein darf, weil der Erwachsene damit nicht umgehen kann. Strafe. Zurechtweisung. Regularien.

Mit all dem alleine sein. Nicht begleitet werden. Niemandem davon erzählen können. Wieder Überforderung.

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Körperlicher Aspekt aktuell:
Brockenkonflikt (nach der germanischen Heilkunde) ist jetzt als Erwachsene aktiv – Der Darm will helfen, versucht beim Verdauen dieses Brockens zu unterstützen. Bei mir Krämpfe, Blähungen, Durchfall, Appetitlosigkeit, Übelkeit, sattes Gefühl. Da gibt es erstmal genug zu verdauen.

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Dieses Dilemma des Kindes von damals ist in der Gegenwart in mir aktiv. Ich als Erwachsene spüre die Verzweiflung des Kindes. Ich sehe das Kind. Verstehe es. Bin da mit ihm und mir gleichermaßen. Hör ihm zu. Endlich hört diesem Kind jemand zu und endlich versteht jemand, was es sagt, empfindet, sieht das unlösbare Problem.

Gehen, die Situation verlassen, war damals keine Option. Das kam schlicht nicht vor im Repertoire des Kindes. Wie auch? Und so fühlt es sich auch heute an. Etwas in mir denkt immer noch, dass ich in Kontakt bleiben muss und es nur darum geht, darin möglichst unbeschadet zu bleiben.

Ich bin noch mittendrin in dieser Selbstbegleitung. Es wirkt und wogt in mir. Ich beobachte. Forsche. Lass es geschehen. Schaue hin. Schaue zu. Erkenne. Fühle.

Ich mag innerlich an den Punkt zurückgehen, an dem ich diese Verantwortung für die Gefühle von meinem Vater übernommen habe. Dort mag ich hinschauen und dann die göttliche Ordnung geschehen lassen. Da darf Gott passieren und „korrigieren“.